Samstag, 12. März 2022

 

Wege zur Hingabe des Herzens

Der Orpheus-Mythos (1)

Orpheus und Eurydice
ca. 1922 by Charles Ricketts, gemeinfrei
 
Der Mythos von Orpheus zählt zu jenen Erzählungen des Altertums, von denen eine eigenartige Faszination ausgeht. Insbesondere die Liebesgeschichte von Orpheus und Eurydike inspirierte im Laufe der Jahrhunderte zahllose Künstler. Es finden sich Dutzende von Opern, die diese Legende thematisieren, sie reichen von Monteverdi bis Philip Glass. (Eine vollständige Liste dieser Werke findet sich unter dem Stichwort »Orpheus-Opern« bei Wikipedia). Auch zahlreiche bildende Künstler nahmen sich dieses Sujets an.

Orpheus, der ‚Dunkle‘, ist seit der Antike zum einen Repräsentant der alles bezwingenden Macht der Musik, zum andern wagte er es im Vertrauen auf seine Kunst, allein in die Unterwelt hinabzusteigen, um seine Gemahlin zurückzuholen.(Abendstein, Reiner (2005), S. 165)

Orpheus brillierte als Sänger, der durch seine Kunst Menschen, Tiere und Pflanzen, ja selbst Steine zu bewegen vermochte. Eurydike, seine Frau, kam durch einen Schlangenbiss zu Tode. Orpheus, der sie über alles liebte, riskierte den Abstieg ins Totenreich. Er konnte Hades, den kalten Gott der Unterwelt, durch seinen Gesang so berühren, dass dieser gemeinsam mit seiner Frau Persephone dem Sänger eine einmalige Chance bot: Eurydike würde ihm auf den Weg zurück in die Oberwelt folgen, unter der Voraussetzung, dass er sich dabei um keinen Preis nach ihr umdrehte. In diesem Fall würde sie für immer in der Unterwelt bleiben.

Der Orpheus-Mythos thematisiert die tiefste menschliche Sehnsucht: die Überwindung des Todes. Gleichzeitig erzählt er vom Scheitern, von Vergeblichkeit, von der conditio humana.

Der Mythos demonstriert, dass die Götter ihre Pappenheimer kennen: Ihre Bedingung hatte es in sich, sie erwies sich als Aufgabe, die »Göttervertrauen« verlangte. Orpheus, der mit seinem Gesang selbst Gebirge in Bewegung zu setzen vermochte, fehlte dieses Vertrauen. Auf dem Weg nach oben, als er keine Schritte hinter sich hörte, wuchsen seine Zweifel ins Unerträgliche. Er drehte sich um, in diesem einen Augenblick begegnete er dem erschrocken-traurigen Blick Eurydikes und musste mitansehen, wie sie auf immer in der Unterwelt entschwand.

Was lehrt der Mythos?
 
Zunächst, dass es Orpheus an Vertrauen in das Versprechen der Götter mangelte. Sein Misstrauen obsiegte am Ende, die Vision, den Tod mithilfe der Kunst zu überwinden, wurde bitterlich enttäuscht.
Auch die Liebe des Orpheus zu Eurydike zeigte sich nicht stark genug, um sie ins Leben zurückzuführen. Gedanken und Bedenken des Verstandes siegten über seine Liebe.

Gleichzeitig mangelte es ihm am Kontakt zur Selbst-Essenz, der Klarheit in der Beziehung zur Stimme seines Herzens, dies es gebraucht hätte, um diese schwere Prüfung der Götter zu bestehen. Dem Sänger fehlte das Urvertrauen, das »blinde Vertrauen«, letztlich jene Präsenz, in dem die Stimme des Herzens entscheidender wirkt als die Gedankenmaschinerie des Verstandes.
 
Betrachtete man die Gefühlsebene, so stieß man schnell auf das Dunkle im »Dunklen« (Orpheus, der »Dunkle«, siehe oben), auf die Schattenwelt der Seele, die sich im Mangel an Vertrauen manifestierte: Vertrauen in das Wort der Götter, Vertrauen in die Stimme seines Herzens, Vertrauen in die Liebe, Vertrauen in das Selbst: Selbst-Vertrauen.
 
Dieser Mangel an Selbst-Vertrauen konstruierte und nährte eine Gedankenwelt, in der Zweifel und Misstrauen die Wirklichkeit vernebelten. Diese Gedankenwelt, diese Konstruktion, die sich aus dem Denken manifestierte, betraf sowohl die innere als auch die äußere Realität. Die innere, indem sie den Kontakt zur Liebe verschleierte, die äußere, indem der Ego-Verstand sich grandios erhob über das Wort der Götter, sich für klüger, wichtiger hielt.
 
(Fortsetzung folgt)