Wege zur Hingabe des Herzens
Der Orpheus-Mythos (4)
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Zum tieferen Verständnis galt es den Begriff des »transpersonalen Herzcodes« aufzugreifen, der in einem vorhergehenden Abschnitt erläutert wurde. Dahinter verbargen sich jene Anteile des Kernselbst, die in der Tiefe jeder einzelnen menschlichen Seele existierten. Lag das Wesen der orphischen Kunst darin, die Essenz, diesen Herzcode, die liebende Natur des Menschen, anzusprechen, zu aktivieren?
Hingegeben im Hier und jetzt, verbannten Sänger und Zuhörer das Gedankenkarussell des Ego-Verstands. Orphische Herzverbindung entsagte der Eitelkeit, machte sich keiner vordergründigen Bewunderung anheischig, präsentierte sich nicht. Orphische Kunst erweckte, transzendierte: Potentiale der Hingabe an die Energie der Liebe, an die Wahrhaftigkeit des Herzens. Es löste die Nebel des Denkens auf, für einen – seligen – Augenblick.
Jäh verbanden sich zuvor unzugängliche Selbstanteile des transpersonalen Herzcodes miteinander, Erfahrungen, wie sie potentiell bei Geburt und Tod erlebbar waren. Dabei entstand ein Energiefeld der Präsenz, in welcher das Individuelle verblasste, sich auflöste wie Morgennebel im Angesicht der Sonne. Der Vorschein substantiellen Eins-Seins erstrahlte, erfüllte und verband Seelen, schenkte Heimat und Frieden, heiligte den Augenblick.
Das, woran der Künstler Orpheus im Leben scheiterte, konnte er in seiner Kunst immerhin umzusetzen: die Lebewesen, die Herzen, die Götter, ja selbst die Dinge um sich herum zu (be)rühren, in Bewegung zu versetzen, so dass Verbindung, Einheit, Einssein im Hier und Jetzt erfahrbar wurden. So vermochte er die Saiten transpersonaler Liebe, die Verschmelzung von Agape, Philia und Eros, als »Zauberkraft« zum Schwingen zu bringen und seine Zuhörerschaft in den Bann ziehen.
Hier, in seiner Gesangskunst, lebte Orpheus die Lebensenergie Liebe in vollständiger Hingabe, verband sein Herz mit den Herzen all jener, die seinem Gesang lauschten. In diesen Augenblicken entstand ein Energiefeld, in welcher Künstler und Zuhörer jene mystischen Räume betraten, in denen die über die Person hinausgehenden Dimensionen von Liebe spürbar wurden.
Genau das erschien mir als Potential und Begrenzung jeder Kunst: Das Genialische des Orpheus lag in seiner vollkommenen Hingabe an Gesang und Lyra. Hier verfügte er über den Zugang zum Göttlichen in sich selbst, betrat den Weg der seligen Mystiker, berührte den, der offenen Herzens seiner Gesangskunst lauschte.
Hätte Orpheus nur auf dem Gang von der Unterwelt ins Leben blind, taub und gedankenlos dem Wort der Götter vertraut! Überwand Liebe den Tod, wenn sie rein, ohne Misstrauen und Zweifel war? An dieser Utopie und an seinen Schatten scheiterte er.
Seinen Zuhörern hingegen schenkte er einen Blick ins Elysium. Gleichzeitig blieb der Mensch Orpheus bei allem Göttlichen, das sich in seiner Gesangskunst ausdrückte, in der Dichotomie von Herz und Ego-Verstand gefangen. Beides, Göttliches und Menschliches, wiesen in dieselbe Richtung: die des mystischen Weges, des Weges der Transformation der Herrschaft des Ego-Verstands. Dieser Weg war der Weg zum Herzen, den Christus in der Bergpredigt versprach: »Selig sind die, die reinen Herzens sind, denn sie werden Gott schauen.«
Ich führte mir vor Augen, wie weit entfernt von einer Realität des »reinen Herzen« die Menschheit existierte. So drängte sich die These auf, dass die Orpheus-Erzählung zudem ein Schlüssel-Mythos für die westliche Kultur darstellte, deshalb so lebendig und anziehend wirkte.
Selbst-Entfremdung, gespiegelt in der Über-Betonung des Denkens, Misstrauen gegenüber dem Göttlichen, den Gefühlen, der Intuition, der Stimme des Herzens, der Liebe, alles und jedes kam hier zusammen. Diese Potentiale bleiben dem Leben verschlossen. Ihr Wirkungsfeld überdauerte idealtypisch in jener Kunst, welche die orphische Essenz abzubilden vermochte. War sie es doch, die Herzen verband, das Göttliche im Menschen zum Erstrahlen brachte. War sie es doch, die Heimat und Frieden, für einen seligen Augenblick im Herzen anklingen ließ.
Wo fand ich das Orphische in der Kunst, der Gesangskunst? Ich begann Musik mit anderen Ohren zu hören, den Vortragenden mit anderen Augen zu sehen. Es bildete den Anfang einer Reise, die nicht zuende ist.