Mittwoch, 30. Dezember 2020

SEINSORIENTIERTE KÖRPERERFAHRUNG (278): Herz, Energie und Seele

foto: Darius Bashar via unsplash

Paul Pearsall diagnostizierte im Herzen das Kernelement unseres Wesens, verband so westliches und östliches Wissen über der Liebe, Physik und Metaphysik. Es war frappierend, die offenen Enden und Fragen, die ich seit Jahren in mir herumtrug, wurden mit einem Male verknüpft, kreierten eine neue Gestalt.

Die essentielle, liebende Natur des Menschen, bei Stern das »Kern-Selbst«, bei Balint die »primäre Liebe«, bei Reich der »biologische Kern«, verwiesen auf das Herz als »Herz« des Energiesystems.
Pearsall führte an, dass dieses menschliche Organ weit mehr als eine mechanische Pumpe darstellte. Er relativierte unser westliches gehirndominiertes Menschenbild mit seinem Modell der Kardioenergetik eindrucksvoll. So verwies er beispielsweise auf das eigenartige Phänomen, dass das elektromagnetische Feld (EMF) des Herzens sich erheblich stärker manifestiert als das des Gehirns:

»Das EMF des Herzens ist 5.000 mal stärker als das elektromagnetische Feld, das unser Gehirn erzeugt; es hat nicht nur eine ungeheure Kraft, sondern auch subtile, nichtlokale Effekte, die innerhalb dieser Energieform transportiert werden. Supraleitende Quanteninterferometer, Magnetokardiogramme und Magnetoenzephalogramme, die Magnetfelder außerhalb des Körpers messen, zeigen, dass unser Herz ein Magnetfeld von mehr als fünfzigtausend Femtoteslas erzeugt ..., verglichen mit weniger als zehn Femtoteslas, die das Gehirn zustande bringt.«(Pearsall, Paul (1999), S. 106)

Paul Pearsalls berichtete, dass seine Forschungen durch seine schwere Erkrankung ausgelöst wurden, bei der zum ersten Mal mit der Intelligenz und der heilenden Energie seines Herzens in Kontakt kam. Als Psychoneuroimmunologe mit einigen Jahrzehnten Berufserfahrung begann er sich für die Hintergründe zu interessieren.

Er gründete und leitete eine große psychiatrische Klinik, die sich auf Patienten mit Organverpflanzungen, insbesondere Herztransplantationen spezialisiert hatte, hielt Vorträge auf der ganzen Welt vor Transplantationsorganisationen, zeichnete Tiefeninterviews mit Dutzenden Organempfängern und Angehörigen auf.

Dabei stieß er auf verblüffende Phänomene, die auf einen grundlegenden Zusammenhang zwischen der physiologischen und psychologischen Beziehung, die ein Fremdherzempfänger entwickelte, verwiesen. Sein Buch ist voll von eindrucksvollen Beispielen. So beschrieb er beispielsweise:

»Bei meinen Herztransplantatempfängern fand keine Veränderung im Geruchs- oder Geschmackssinn statt, sondern eine Veränderung der Geruchs- und Geschmacksempfindungen (die Bedeutungen, die wir den Wahrnehmungen unseres Geruchs- und Geschmackssinns geben). Erinnerungen sind weit mehr als eine Gehirnszellenstimulation und Reaktionen unserer fünf grundlegenden Sinnesorgane. Sie sind ein Konvolut, das beinhaltet, wie unser Herz die Welt wahrnimmt, deutet, versteht und erlebt.

Alles, was wir jemals geschmeckt, gerochen, berührt, gehört und gesehen haben, wird vom Herzen in den inneren Info-Energiekreislauf eingeschleust, und die Herzzellen rufen aus diesen Wahrnehmungen energetische Erinnerungen an diese Begebenheiten ab. Es ist also nicht verwunderlich, dass mit einem neuen Herzen auch ganz neue Erinnerungen übertragen werden.«(Pearsall, Paul (1999), S. 199)

Diese Hintergründe verdichteten sich zu der Grundannahme, dass
»das Herz der Haupterzeuger von Info-Energie [ist]. Das Herz sendet fortwährend info-energetische Signale mit einem bestimmten Muster aus, welche die Organ- und Zelltärigkeit im ganzen Körper  regulieren.«(Pearsall, Paul (1999), S. 39)

Die wissenschaftlichen Schlussfolgerungen seiner Quellen verdeutlichten: Herz, Energie und Seele bildeten eine funktionelle Einheit. Profan, aber überzeugend untermauert, wurde die  Funktion des Herzens durch Hinweise aus unserer Körpersprache: Zeigte man doch auf seine Herzregion, und zwar kulturübergreifend, wenn man vom Selbst, von dem Sitz der Seele sprach. Wer deutete dabei schon auf seinen Kopf? Schenkten wir dem oder der Geliebten unser Gehirn oder unser Herz?

(Fortsetzung folgt)

 

Sonntag, 1. November 2020

SEINSORIENTIERTE KÖRPERERFAHRUNG (277): Was erfüllte Liebe im Leben?

 

foto: vkd

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Die Bindungsforschung bot Antworten an, die über das Triebmodell hinausgingen. Dass der Mensch ein Bindungswesen war, konnten Forscher seit John Bowlby eindrucksvoll zeigen.

Menschliche Bindungsbedürfnisse, insbesondere in der frühkindlichen Entwicklung, gebärdeten sich dermaßen ausgeprägt, dass die Bindungsimpulse selbst dann keinen Schaden nahmen, wenn sie auf eine eingeschränkte Liebesfähigkeit trafen. Was den berühmte »Normalfall« darstellte, nach dem gern geurteilt wurde. In den Persönlichkeitsstrukturen von Kindern und Erwachsenen waren Bindungsdefizite leicht erkennbar, prägten das Beziehungsverhalten bis zum Ende des Lebens.(vlg. hierzu. Brisch, Karl Heinz).

Die moderne Säuglingsforschung, die Daniel Stern begründete, gab ebenso zahlreiche Hinweise auf das bindungsorientierte und spontan soziale Wesen des Babys. Sie lieferte diagnostische Anhaltspunkte für Störungen in der Mutter-Kind-Interaktion und daraus resultierende Einflüsse auf die Persönlichkeitsentwicklung des Menschen.

Die Phänomenologie der Liebe als menschliche Bindungs- und Sozialkompetenz wurde eindrucksvoll beschrieben. Die hormonellen, biochemischen Vorgänge der sexuellen Fortpflanzung präsentierten sich als sorgfältig erforscht, einleuchtend und reproduktionsfähig. Seit Ende der 70er Jahre ermöglichte es die Wissenschaft, Babys durch künstliche Befruchtung, die sog. »In-vitro-Fertilisation«, auf die Welt zu bringen. Schaute man genauer hin, dann wurde deutlich, dass 45% der auf diese Weise erzeugten Kinder häufiger mit einem Herzfehler oder anderen körperlichen Risiken geboren wurden.(Brendler, Michael: Ein Risiko bleibt – 7 Millionen Kinder weltweit verdanken ihr Leben der künstlichen Befruchtung – mit erhöhter Gefahr von Fehlbildungen und Herzfehlern. In: Berliner Zeitung, Nr. 172, 27. Juli 2020, S. 23) Hatte man hier ein wichtiges Element übersehen?

Die Frage, was all diese Prozesse bestimmte, steuerte und zusammenhielt, die energetische, informelle Quelle der Liebespotentiale, die den Menschen prägte, ein Leben lang bewegte, all dies erschien mir mechanistisch, unzusammenhängend, diffus, am Wesentlichen vorbeigehend.

Von welcher Vitalität musste Liebe sein, wenn sie als Bindungsimpuls in frühester Kindheit, trotz aller Widrigkeiten, umfänglich wirkte? Im Leben von Jugendlichen und Erwachsenen drängte sich die erwachende genitale Sexualität mit Macht in den Vordergrund. Sie konnte mit überwältigenden seelischen Erschütterungen verbunden sein. Oder mit emotionaler Abwehr, Distanz, Kälte. Verwies dies nur auf die frühen Bindungserfahrungen, traten weitere Faktoren hinzu? Existierten hier geschlechtsspezifische Unterschiede?

Viele Fragen. Ich fühlte mich auf der Spur, aber empfand keine innere Klarheit, sondern diffuse, teilweise widersprüchliche Wahrnehmungen.

Neben prägenden Erfahrungen, intuitiven Erkenntnissen und Impulsen durch die Sichtweisen anderer Menschen erwirkten Bücher Anregungen für eine neue Beziehung zum Leben. Vorausgesetzt, sie lösten einen verändernden, »verrückten« Blick auf etwas aus, was still im Inneren arbeitete: Am Ende entfaltete der Schmetterling, der aus der Puppe kroch, seine Flügel, um sich auf den Weg zu begeben.

Einst fiel Wilhelm Reichs Funktion des Orgasmus auf den fruchtbaren Boden meiner Suche. 30 Jahre später traf ich auf ein Buch, das mich in ähnlicher Weise inspirierte: "Heilung aus dem Herzen – die Körper-Seele-Verbindung und die Entdeckung der Lebensenergie" des Psychoneuroimmunologen Paul Pearsall.

Pearsall gab eine naheliegende, einfache Antwort, fütterte sie mit umfangreichem empirischen und wissenschaftlichen Material. Seine Theorie benannte als Quelle und Instrument jeder Verbindung und Bindung das Herz, das ubiquitäre menschliche Organ der Liebe.

(Fortsetzung folgt)

Sonntag, 20. September 2020

SEINSORIENTIERTE KÖRPERERFAHRUNG (276): Das Mysterium der Liebe


 

 

 

 

 

 

 

 

 

»Wenn wir die Existenz eines Herzcodes ernsthaft in Erwägung ziehen, können wir die Brücke zwischen den biochemischen Errungenschaften der modernen Medizin und der Spiritualität der überlieferten, traditionellen Heilsysteme, zwischen den verschiedenen alternativen oder ergänzenden medizinischen Strömungen und der Weisheit der Religionsgelehrten und spirituellen Lehrer schlagen.« (Paul Pearsall)

Was war das Mysterium der Liebe? Wie formte sie sich? Wo ließ sich ihre Quelle verorten? Es ging mir weder darum, sie als unlösbares Rätsel zu verewigen, noch um Erklärungen und Analysen, sondern um die Frage nach ihrer Gleichzeitigkeit in Ursprung und Präsenz. Auf meiner Suche hatte ich noch immer das Gefühl, etwas Wesentliches übersehen zu haben.

In seinem bereits zitierten Buch erzählt Jack Kornfeld die Geschichte vom goldenen Buddha: In einem Tempel in Sukhothai im Norden Thailands stand eine ungewöhnlich alte, große Buddhastatue aus Ton. Sie hatte viele Jahrhunderte überdauert. Die Mönche, die sich um die Statue kümmerten, bemerkten eines Tages, dass Risse auf ihrer Oberfläche auftauchten, die sich in den folgenden Wochen erweiterten. Bald waren sie so weit vergrößert, dass sie hineinleuchten konnten und einen goldenen Schimmer entdeckten. Zu ihrem Erstaunen fanden sie unter dem Ton eine der eindrucksvollsten und größten Buddhastatuen aus Gold, die in Asien je geschaffen wurden.

»Wie die Menschen von Sukhothai den goldenen Buddha vergessen hatten, so haben wir unsere wahre Natur vergessen. Meist sind wir nur mit unserer schützenden ‚Tonschicht‘ befasst. Das wichtigste Ziel buddhistischer Psychologie aber ist es, uns den Blick hinter die Schutzschicht zu eröffnen, sodass wir unsere ursprüngliche Güte zum Vorschein bringen, die wir auch »Buddhanatur« nennen.«(Kornfield, Jack (2008), S. 22 ff.)

Die buddhistische Tradition sah Liebe aus einem friedvollen, gütigen Herzen erwachsen, betrachtete sie als das innere Gold, unser wahres Wesen, das es zu freizusetzen galt. Liebe erschien grenzen- und bedingungslos, transpersonal und gleichzeitig als tiefster Wesenskern des Menschen. Seine Quelle bildete das »erwachte Herz«.

Auf der anderen Seite des Spektrums standen die westliche Triebtheorie Freuds und die darauf basierenden Vorstellungen Reichs. Wo die buddhistische Psychologie eher den Menschen als Gattungswesen betrachtete, stand hier die einzelne Persönlichkeit, die individuelle Erfahrung im Fokus.

Die Biologie der Libido, der sexuellen Energie, erschien als diejenige Wirkkraft, die für Funktion und Formung der Liebe verantwortlich zeichnete. Das psychische Erleben der Liebe trat als Spiegelung des Trieblebens auf. Sexualität beeinflusste das Seelenleben nachhaltig, das stand außer Frage.

Und Liebesgefühle? Repräsentierten sie halluzinierte Tagesreste eines befriedigenden oder unbefriedigenden sexuellen Erlebens? Fand sich in ihnen ein eigenständiges bio-emotionales Grundbedürfnis? Das, was im Buddhismus als erleuchteter Wesenskern Liebe freigelegt würde, erschien im klassischen westlichen Triebmodell als banale Spiegelung libidinöser Triebkraft. Überhaupt, die augenfällige Spaltung von Sexualität und Liebe, brachte wenig Klärung.

Die Wahl der Worte suggerierte Nuancen: Erfuhr ich ein »befriedigendes Sexualleben« oder ein »erfülltes Liebesleben«? »Befriedigend« deutete auf das Triebhafte, im Sinne von Hunger und Sättigung. »Erfüllt« verwies schon eher auf eine seelische Komponente, die hinzutrat, ähnlich, wenn ich von »Liebesleben« statt »Sexualleben« sprach.

(Fortsetzung folgt)

Samstag, 1. August 2020

SEINSORIENTIERTE KÖRPERTHERAPIE (275): Das Liebesdrama des Narzissmus

foto: vkd

Alle Beobachtungen liefen auf eine Frage hinaus: Existierte etwas Tieferes, ein Urgrund der Persönlichkeit, ein innerer Raum von Fülle jenseits der Ego- und Ich-Strukturen? Existierte ein (tieferes oder höheres) Selbst?

Wilhelm Reichs »biologischer Kern« firmierte als eine Art Grundausstattung, betrachtete den Menschen als energetisches System. Von frühester Kindheit an (über)lebte er nur in Beziehung. Bindung durch Gehaltenwerden und Halt durch Bindung wirkten und wuchsen dort, wo Liebe aufschien. Ohne sie verkümmerten sie, Liebe wie Seele.

Das Lebendige, die primäre unendliche Energie der Liebe, die in jedem Neugeborenen das Licht der Welt erblickte, repräsentierte eine phylogenetische Konstante. Fand sich hier jene unveränderliche, Inkarnationen überdauernde Wesens-Instanz der Persönlichkeit (»Atman«), wie Hindus glaubten?

Der Begriff »organismische Wahrheit«, den ich in meinen Veröffentlichungen verwendete, verknüpfte die biologistischen Ansätze Reichs mit der Instanz des Spirituellen, Physik mit Metaphysik. Gleichzeitig nahm ich ein Unbehagen wahr, denn all diese »Selbst-Konzepte« muteten etwas abstrakt an. Was sonst?

In allen Systemen, den westlich-psychologischen und den östlich-spirituellen, tauchten zwei Entitäten immer wieder auf: Liebe und Herz.

Zielten all die Bemühungen der narzisstischen Ich- und Weltkonstruktionen darauf ab, das eigene Herz zu schützen, Liebe(n) zu verhindern? Stellten das Gieren nach dem bewundernden Blick der Anderen, die Konstruktionen von Groß- und Einzigartigkeit die subtile Form einer Sehnsucht  dar, die in der Kindheit unerfüllt blieb: Mit dem ganzen Sein geliebt zu werden?

Hat man auf der Seinsebene keine Liebe erfahren, verblieb eine offene Wunde, eine Leerstelle, die verhinderte ... zu lieben. Das stellte die Tragödie, die Sisyphos-Qualität der narzisstischen Persönlichkeit dar: Liebe erhalten zu wollen, ohne lieben zu können.

Aus dieser Ohnmacht resultiert der Hang zur Größe, zur Einzigartigkeit, zum beständigen Drang, sich aufzuplustern: Ein Junges, das dauernd auffällt im verzweifelten Bemühen, in seiner Sehnsucht,  "wahr genommen" und in seinem wahren Sein geliebt zu werden.

Hinter der narzisstischen Tragödie verbarg sich ein Drama ... ein Liebesdrama.

Die Wunde des Ungeliebtseins verhinderte den Zugang zu einer tieferen Ebene in sich selbst, der des »biologischen Kerns« (Reich), der »primären Liebe« (Balint), zu ihnen wurde die »Bindung gestört«. Die Sucht nach Anerkennung, Bestätigung und Bewunderung kompensierte diesen entwurzelten Kontakt, die Vergeblichkeit des Versuches, eine Verbindung zur primären Liebe zu finden. In der frühesten (Objekt-)Beziehung ging sie einst verloren, in die Wiederholungszwänge des späteren Lebens adressiert die Seele ihre – unbewusste – Sehnsucht nach Heilung.

Von frühester Kindheit war Liebe im Menschen präsent. Sie wurde beschämt. Angst und Unfähigkeit wuchsen, authentisch in Liebe zu sein. Nur in den Phasen des Verliebtseins, das gleichzeitig »selbsttranszendente« (Joas) und regressive Eigenschaften aufwies, schien kurzfristig die primäre Liebe wieder auf. Doch wie hing dies zusammen?

Im therapeutischen Kontext begann ich, Persönlichkeitsmuster nicht mehr im Kontext psychosexueller Entwicklung zu betrachten, sondern als Ergebnis jener prägenden Erfahrungen, durch die ein Kind lernte, seine natürliche Liebesfähigkeit zu formen. Der Schizoide flüchtete sich beispielsweise in die Paradiesvorstellungen seines Intellekts, der Anale in Zwangsrituale, der Phalliker in dominante Grandiosität, der Hysteriker in die Flucht vor emotionaler Nähe usw.

Entsprechend erkannte ich in narzisstischen Verhaltensmuster ein ubiquitäres Phänomen, das in deutlichem Zusammenhang mit den menschlichen Bedürfnissen nach Halt, Bindung und Liebe stand. Sie standen also nicht mehr für eine Pathologie oder den Ausdruck einer Persönlichkeitsstörung, sondern für die individuelle Art und Weise, wie ein Mensch gelernt hatte, sein Herz zu schützen.

(Fortsetzung folgt)

Sonntag, 26. Juli 2020

SEINSORIENTIERTE KÖRPERTHERAPIE (274): Maske, "Rührmichnichtan" und Corona

Bild von Sergei Tokmakov, Esq. auf Pixabay
Denn in den Gefühlen, die im Gegenüber angesprochen wurden, ließ sich ein faszinierendes Phänomen beobachten: Dessen Unbewusstes nahm die Verletzlichkeit, die seelische Brüchigkeit, durchaus wahr, die die narzisstische Großartigkeit angestrengt zu verbergen versuchte. Sie sprach typischerweise Beschützerinstinkte an, mütterliche und väterliche Gefühle für das fragile, ungeliebte innere Kind. Ein Ego, das sich besonders eindrucksvoll präsentierte, löste den Hang aus, solchen unbewussten Impulsen des »Beschützenwollens« besonders und eindrucksvoll zu folgen.

Die Dynamik, die sich in diesen Übertragungsgefühlen manifestierte, die die Großartigkeit, die Macht des Narzissten untermauerte, stammte aus dem mitfühlenden Herzen des Menschen, aus dem Quell der unendlichen Energie der Liebe.

Es bezog die Wirkung auf seine Claqueure nicht aus der Stärke seines Egos, sondern aus der dahinter verdeckten unsäglichen Einsamkeit. Ironischerweise zeigte sich hier eine Kollusion, die ihren Protagonisten häufig verborgen blieb.

In der Gegenübertragung erweckte es den Eindruck, als ginge man auf Eis, das jederzeit einbrechen könnte. Im therapeutischen Kontext vermochte eine »falsche« sprachliche Formulierung aggressive Reaktionen »narzisstischer Wut« auszulösen. »Falsch« war ein Wort oder ein Satz dann, wenn er eine Wahrheit aussprach, die das falsche, fragile Selbst infrage stellte, bedrohte.

In der alltäglichen Kommunikation, auf der Ebene konventioneller Verhaltensmuster, dominierte ein unausgesprochenes »Rührmichnichtan«, bezogen auf das narzisstische Ego. Jeder Kratzer an dieser Selbst-Inszenierung erweckte den Eindruck eines potentiellen Konfliktherdes.

Repräsentierten Konventionen, übliche Umgangsformen etc. nicht ein stillschweigendes Übereinkommen, das Ego, das Bild, die Erzählung, die jemand von sich vermittelte, nicht infrage zu stellen? Denn das war »normal«. Und normal wollte jeder sein.

Es galt zu verhindern, das »Gesicht zu verlieren«. Die Maske. Die Ehre. Es gab Zeiten in unserer Gesellschaft, da duellierte man sich, war bereit, um seiner Ehre willen sein Leben zu opfern. Es gab Kulturen, die dafür Mord und Totschlag begingen (sog. »Ehrenmorde«). In allen Armeen dieser Welt spielte »Ehre«. Wobei nicht zu übersehen ist, dass sich hier ein patriarchalisches Wertemuster spiegelt, nach wie vor eine zentrale Rolle. Die Ehre des Mannes und ihrer Infragestellung stellt sich häufig als Phänomen seiner gesellschaftlichen Positionierung dar. Die Ehre der Frau konnotiert häufig die Sexualmoral (Jungfrauenkult, Keuschheitszwang vor der Ehe, Ehrbeschmutzung bei Untreue usw.) und die Familie (»Familienehre«).

Fiele die Maske, käme das Abgespaltene zum Vorschein: innere Unsicherheit, Begrenztheit, authentische Emotionen, ... Wahrheit. Es war um jeden Preis zu vereiteln, wollte man sich als »normal« definieren und entsprechend anerkannt werden.

So »verrückt« waren normale, durch Scham normalisierte Menschen? »Verrückt« erschien mir die Realität, verrückt vom Wesentlichen, von der bio-emotionalen Wahrheit. Die Maske, allein das, was sein sollte, herrschte. Nicht Wirklichkeit.

Diese Aussage gewann aktuell an symbolischer Bedeutung durch Corona. Beides, Maske und »Rühmichnichtan«, die hier präsentierten Vorgänge des Unbewussten, traten, wie manches, aus ihrem Schattendasein hervor.

Die Maske avancierte zum sichtbaren Accessoire des homo sociologicus. Dank Covid-19 erscheint es »normal«, sich maskiert durch’s Leben zu bewegen. Jeder sieht die Maske, sie bleibt nicht weiter verborgen.

Ihr Tragen wurde zum Element sozialer Bezogen- und Verbundenheit. Die Ablehnung, sie zu tragen, sich zur »Not«Wendigkeit zu bekennen, verweist auf ihr Gegenteil, die antisoziale, egozentrische Verweigerung. Hier zeigt sich das vorsintflutliche, potentiell dem Untergang geweihte, narzisstische Ego, ebenso anmaßend wie verloren, indem es nicht nur das Leben anderer Menschen, sondern auch das eigene auf’s Spiel setzt.

In ähnlicher Weise verhält es sich mit der unbewussten Botschaft des »Rührmichnichtan«. Corona hat sie aus dem Schatten treten lassen. Der zwischenmenschliche Graben, für den, wie wir sahen, bisher das Ego sorgte, erwuchs zur sicht- und fühlbaren Erfahrung. Soziale Distanz, eingepfercht im Gebot des »Rührmichnichtan«, wurde durch das Abstandsgebot zur unübersehbaren Realität, trat aus dem Schatten in die Sichtbarkeit des Bewusstseins. Die Risse im Beton durchdringt das frische Grün der Hoffnung.

(Fortsetzung folgt)

Sonntag, 19. Juli 2020

SEINSORIENTIERTE KÖRPERTHERAPIE (273): Das grandiose Ego und das verlorene Kind

Bild von Thomas Wolter auf Pixabay

Die alleinige Ausrichtung auf die äußere Welt erwies sich als fataler Irrweg. Er führte genauso wenig zur Heilung wie das lebenslange Bestreben, von den Eltern im Nachhinein die heilsame Liebe zu erfahren, die man in der Kindheit entbehrte.

Selbst bei denjenigen, die scheinbar auf alle Konventionen pfiffen, ließ sich dieser tiefsitzende, verzerrte »Schrei nach Liebe« vernehmen, diese ständige Suche äußerer Anerkennung, Bewunderung, Spiegelung. Der Adressat war ausgetauscht. Es war nicht mehr die Gesellschaft im allgemeinen, sondern  die Subkultur, der sich jemand zurechnete. Die ersehnte Heilung von Selbstentfremdung nährte ein weites Spektrum an Sekten, Fanatikern, Formen des Missbrauchs.

Ein anderes Merkmal narzisstischer Verhaltensmuster erregte meine Aufmerksamkeit: das Phänomen expliziter oder verborgener Grandiositätsphantasien. Was war der Antrieb, sich großartig in Szene zusetzen? Im üblichen Sprachgebrauch gab es für die offene Variante viele Beschreibungen: »Schaum schlagen«, »aufschneiden«, »angeben«, »prahlen«, »protzen«, »sich aufplustern« usw.

Das Selbstbild, das sich dabei präsentierte, erinnerte an Werbeclips. Sie versprachen Ideale, Superlative, Wundersames. Eine eindrucksvolle heile Welt, von der alle Beteiligten, Macher wie Zuschauer, Erzähler wie Zuhörer, längst wussten, wie verlogen sie war. Solche Heldenerzählungen spulten sich rund um die Uhr ab, in jedem Gespräch, in den Massenmedien, in der ubiquitären Werbung.

Ihre Funktion bestand darin, Erwartungen zu erfüllen, die einer idealen Wirklichkeit auf Seiten des Adressaten, die nach Anerkennung und Bewunderung auf Seiten des Erzählers. Hier fand sich eine typische Kollusion. Beide Seiten profitierten davon psychologisch, materiell zumindest eine, wie  es heutzutage bei den sog. »Influencer« zutrifft.

Schwieriger wahrzunehmen als die Marktschreier und Prahlhänse waren diejenigen, die in ihrer Selbstüberschätzung dezenter auftraten. Bei ihnen schien die Grandiosität verborgen im Inneren auf, zeichnete sich nur indirekt im Verhalten ab. Das Muster war das gleiche: Der Hunger nach Bewunderung, Anerkennung und Liebe verbarg sich hier hinter der Maske der Zurückhaltung, eine ideale Voraussetzung für Kollusionen mit dem offen grandiosen Gegenpart.(Derartige Kollusionen zeigten äußerst verbreitet. Man begegnete ihnen in der Partnerwahl, in jeder Art Gruppenprozessen, insbesondere in Sektenstrukturen, in der Politik, überall dort, wo Führergestalten fanatische Anhänger um sich scharen.)

Ich gewann den Eindruck, dass in all diesen Haltungen sich ein kleines, verlorenes, sich nach Liebe sehnendes Kind verbarg, das sich angestrengt groß(artig) machte, um sich seiner Existenz zu versichern. Sich aufzuplustern, um die bedingungslose Liebe der Eltern zu erfahren, erwies sich in ähnlicher Weise als vergebliche Liebesmüh‘ wie der Versuch, durch die Bewunderung durch andere seine eigene Selbstentfremdung zu überwinden.

Das narzisstische Ego setzte sich als Kompensationsmechanismus in Szene, als erfolgloser Heilungsversuch einer Seele, die sich in ihren verborgenen Tiefen überhaupt nicht großartig, selbstbewusst und stark empfand, sondern klein, unsicher und schwach.

Dazu passten die ausgeprägten Schutz- und Kontrollmechanismen, verknüpft mit Empfindlichkeiten gegenüber jeder Art von Kritik. In extremen Fällen erschien allein die Existenz anderer Sichtweisen, abweichender Vorlieben, ja des Fremden schlechthin, ausreichend, um Verunsicherung und Abwehr auszulösen. Sobald ein Hauch derartiger Botschaften herüberwehte, traten Abwehrmechanismen unterschiedlicher Couleur hervor: Halsstarrigkeit, rechthaberischer Trotz, Beleidigtsein, Beschimpfungen, Wutausbrüche, Rückzug, Kontaktabbruch, Überheblichkeit, Verachtung. Sie stellten nur einige Varianten dessen dar, wie Menschen in sozialen Zusammenhängen auf vermeintlich kritische Äußerungen reagieren.

Wirkten diese Reaktionsmuster auch kraftvoll: Fragilität, Schwäche, Verunsicherung waren hinter der martialischen Kulisse für den Außenstehenden spürbar. Verkleidungen dienten bereits in der Kindheit individuellen Heldenerzählungen, lösten ein Lächeln aus. Das Drama des erwachsenen Narzissten bestand hingegen darin, dass er die Rolle des Helden nicht mehr als Spiel, sondern in ernsthafter Verzweiflung und mit verzweifelten Ernst darstellte. Dies verstärkte den Eindruck der Fragilität der ganzen Aufführung, auch in der Gegenübertragung.

(Fortsetzung folgt)

Sonntag, 12. Juli 2020

SEINSORIENTIERTE KÖRPERTHERAPIE (271): Beschämung, Scham und Fremdschämen

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Die Tendenz zu Verhaltensmustern, die sich an phantasierte Erwartungen anderer orientierten, ließen sich auf Schritt und Tritt beobachten. Diese konventionellen Gesten verwiesen auf das Bedürfnis nach Gratifikation durch Spiegelung, Anerkennung, Bewunderung, Geliebtwerden. Selbst Fremden gegenüber, Menschen, mit denen keinerlei Beziehungserfahrung bestand, ließen sich solche Eigenarten registrieren.

Mir traten Szenarien vor Augen, in denen ein Kind, ein Freund oder Lebenspartner beschämt wurden, um vor anonymen Blicken Fremder zu bestehen. Hier zeigte sich nicht nur ein situationsbedingtes Verhalten, sondern eine »Haltung«, die sich in Gestalt einer »sozialen Maske« (W. Reich) durch das Leben zu ziehen schien. Der Verrat, den ein Kind durch seine Eltern erlitten hatte (»the first cut is the deepest« - Cat Steivens), wandelte sich im sozialen Kontext zur schmerzlosen, schlussendlich mit ihm vehement identifizierten »Normalität«.

Die »soziale Maske« Reichs, die ich hier begrifflich mit dem »narzisstischen Ego« gleichsetze, funktionierte nach Regeln der Konventionen der jeweiligen Kultur. Intrapsychisch gelang das mithilfe durchgängiger Selbstbeschämung, die das Gefühls- und Seelenleben im Sinne gesellschaftlicher Übereinkunft prägte und domestizierte.

Sie formte in Gestalt verschiedener Arten von Sozialkontrolle nicht nur die eigene Seele. Wie ich zu meinem eigenen Herzen bin, so bin ich zum Herzen des anderen.

Schämte man sich seiner eigenen Gefühle, dann traf dies auch auf die anderer zu. Selbst Emotionen derjenigen, die persönlich unbekannt waren, konnten Scham auslösen. Es gibt ein Modewort, das diesen Vorgang in das Bewusstsein rückt: »Fremdschämen«.

Die Tendenz, konventionelles, angepasstes Verhalten zur Norm zu erheben, funktionierte über einen langen, aber niemals vollkommenen Entwicklungsprozess von Beschämung und Selbstbeschämung. Sie bildete ein grundlegendes Element der Selbstentfremdung. Mithilfe der Scham lernte man von Kindheit an, Gefühle und Emotionen zu kontrollieren. Dies entsprach den Erwartungen und Rollenzuweisungen des sozialen Systems, in dem man aufwuchs. Ein typisches Beispiel lautet: »Ein Junge weint nicht, ein braves Mädchen lächelt, aber wird nicht aggressiv.«

Charakterliche und körperliche Blockierungen entwickelten sich, um den lebendigen emotionalen Ausdruck zu domestizieren. Letzterer stand später dem erwachsenen Menschen nicht mehr umfänglich zu Verfügung. Der kleine Junge lernte, seine Verletzlichkeit zu beherrschen, sie nicht zu zeigen. Spätestens im Erwachsenenalter waren die Tränen versiegt.

Das Mädchen, dem die Mutter vorlebte, aggressive Impulse zu kontrollieren, sie mit einem Lächeln zu überdecken, um brav den Erwartungen zu entsprechen, lächelte als Frau selbst dann noch, wenn ihre Grenzen massiv überschritten wurden.

Der zum Mann herangewachsene Knabe ließ weiche, zarte Gefühle nicht zu, das zur Frau erwachsene kleine Mädchen vermochte nicht für seine Integrität einzutreten.

Ähnliche Formungsprozesse, entsprechend den Einflüssen der Umgebung, fanden sich bei allen Elementen des Seelenlebens. Zur Haupt-- und Kontrollinstanz der Formung diente die soziale Maske, das narzisstische Ego. Sie blieb unterschwellig mit Schmerzkörper und Selbst-Entfremdung verbunden, ohne sich dessen gewahr zu sein. Die Abspaltung der in der Tiefe verborgenen Fülle, des »biologischen Kerns«, konsolidierte den Schein innerlicher Armut. Wirkte es da verwunderlich, dass äußerer Reichtum umso erstrebenswerter erschien, wo der Weg zum innerem versperrt war?

Überhaupt blieb der Blick des Egos reflexartig nach Außen gerichtet. Begegnete er andernfalls doch nur der beschämten Schattenwelt, Echos des Schmerzhaften, den verpönten Gefühlen der »sekundären Schicht«.

Die zwanghafte Fixierung der Aufmerksamkeit auf die äußere Welt ging einher mit einem eklatanten Defizit an Bewusstheit. Die buddhistische Psychologie beschreibt das wie folgt:

»Da wir uns unseres Innenlebens so wenig bewusst sind, haben wir den Eindruck, äußere Einflüsse würden unser Leben kontrollieren. Entweder gefällt uns, was wir erleben, oder wir finden es ganz schrecklich. Dieser Zustand schlägt dauernd um, so dass wir ständig in Anhaftung oder Abneigung befangen sind.«( Kornfield, Jack (2008), S. 86)

(Fortsetzung folgt)

Sonntag, 5. Juli 2020

SEINSORIENTIERTE KÖRPERTHERAPIE (270): Körpertherapie und die Ära der Selbstoptimierung

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In der reichianischen Körpertherapie stand im Fokus, die Klarheit einer Emotion dort zu unterstützen, wo im Gefühlsausdruck eine Durchmischung und gegenseitige Blockierung unterschiedlicher Gefühle erkennbar war. Dieses Phänomen verwies auf körperlich-energetische Blockierungen, die eine ganzheitliche bio-emotionale Ausdrucksbewegung verhinderten. Reich sprach in diesem Zusammenhang vom Charakter- und Körperpanzer.

Drückte sich eine beliebige Emotion authentisch, unvermischt und vollständig aus, so ging damit ein Gefühl tiefer Erleichterung und Entspannung einher. Der Kontakt zur inneren Wahrheit, die ja gleichzeitig Wahrhaftigkeit des Herzens (»Hand aufs Herz«) ist, wurde unmittelbar spürbar.

Der Zugang zur Seele über die Arbeit mit dem Körper und seinen bio-emotionalen Prozessen führte deutlich vor Augen, dass das Seelenleben in seiner Tiefe Selbstregulationspotentiale enthielt. Missverstanden und negativ besetzt, musste die Welt des emotionalen Erlebens unzugänglich, in der Schublade des Beängstigenden, des Irrationalen, des zu Kontrollierenden verborgen bleiben.

Davon abgesehen, suchte, wie die Erfahrung lehrte, das so Ausgegrenzte als wesentlicher Teil der menschlichen Natur stets nach Schlupflöchern. Es umging den Kerkermeister des Denkens, wo immer sich eine Möglichkeit bot: Hier zeigte sich ein typisches Szenario des »innerseelischen Bürgerkriegs«, jenem niemals endenden Konflikt zwischen Gefühl und Vernunft, gefühlsmäßiger Wahrheit und Rationalität, Herz und Gehirn.

Weitere Fragen stellten sich. Wenn im Menschen von Kindheit an ein Stück Sisyphos angelegt wird, narzisstische Persönlichkeitszüge auf jeden zutreffen, musste das nicht auf Auswirkungen auf die therapeutische Arbeit haben? Wie wirkte sich das auf diese aus, welche Fragestellungen ergaben sich für die Körpertherapie?

Körpertherapeutische Herangehensweisen halfen, zurückgedrängte, blockierte Emotionen in die Persönlichkeit zu reintegrieren. Damit ging typischerweise eine Identifizierung mit den Gefühlen des »inneren Kindes« einher.

Das Ego lernte, dies ließ sich immer wieder beobachten, sich mit den individuellen emotionalen Mustern zu identifizieren. Doch war mit dieser Reintegration der Transformationsprozess der Persönlichkeit vollständig?

Im Laufe der Zeit gewann ich den Eindruck, dass hier lediglich eine Umprogrammierung des narzisstischen Egos erfolgte. Zwar erweiterten zuvor blockierte Emotionen das seelische Gesichtsfeld, schufen in Stück Freiheit im Erleben und Verhalten. Denn die Körpertherapie ermöglichte, in der Kindheit abgespaltene, verdrängte Gefühle zu reintegrieren. Das Ich-Bewusstsein schloss das »innere Kind« liebevoll in die Arme. Das zwanghafte Denken des Ego-Verstands konnte so gelockert werden, an den Identifizierungen mit den Konstruktionen des Ego-Verstands veränderte sich ... nichts.

Beobachtungen zeigten: Das Perspektive des »Ich-Ich-ich«, die narzisstische Selbst-Bezogenheit verloren in diesem Prozess nicht etwa an Intensität, sondern nahmen zu.

Allmählich gewann ich den Eindruck, als Egozentriker von lauter Egozentrikern umgeben zu sein. Wir alle waren nur mit uns selbst beschäftigt, kreisten um das eigene Wohlbefinden, um innerseelische Wetterumschwünge und die Irritationen der Umwelt, insoweit sie uns selbst betrafen.
Narzisstische Persönlichkeitsmuster nahmen nicht ab, sie zeigten sich potenziert. Ja, die Etiketten waren ausgetauscht. Wo vorher »die Anderen (Eltern, Lehrer, Gesellschaft) sind schuld« draufstand, las man »ich blicke viel besser durch, bin viel besser als die Anderen«. Das Zeitalter der Selbstoptimierer war angebrochen. An der Haltung, die »Anderen« als Instanz und Gradmesser für die eigene Identität zu betrachten, hatte sich nichts geändert.

Ich stieß an die Grenze dessen, was ein körpertherapeutischer Prozess offenbar zu leisten imstande war. Das alte »neurotische Gleichgewicht« ersetzte man durch ein korrigiertes seelisches Konstrukt. Die alte Erzählung darüber, wer man glaubte zu sein, wurde gegen eine neue eingetauscht. Eine aufgehübschte Geschichte, die man sich selbst und den anderen in all dem erzählte, was aufschien.
Doch fühlte ich mich oder fühlte sich der Klient damit in Einklang mit sich selbst und seinem Leben? Vermochte ich jene Heimat und Frieden in mir wahrzunehmen, die ich verloren hatte? War die Selbst-Entfremdung damit überwunden? Führte jahrelange Körper- oder Psychotherapie zur wahrhaftigen Freiheit, innerlich und äußerlich, in Lebensumwelt, in Beziehungen?

Waren Spiegelungssucht, jene qualvolle Anstrengung des Sisyphos, der Drang nach Anerkennung und Bewunderung durch andere, das Defizit an Liebesfähigkeit, damit aufgehoben? Ließ sich dieser Weg als Beitrag zur Transformation der Persönlichkeit, zur Aufhebung der Selbstentfremdung, zur Befreiung aus der narzisstischen Falle betrachten?

(Fortsetzung folgt)

Samstag, 20. Juni 2020

SEINSORIENTIERTE KÖRPERTHERAPIE (269): Das neue Etikett des Ich-Ich-Ich

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In der reichianischen Körpertherapie stand im Fokus, die Klarheit einer Emotion dort zu unterstützen, wo im Gefühlsausdruck eine Durchmischung und gegenseitige Blockierung unterschiedlicher Gefühle erkennbar war. Dieses Phänomen verwies auf körperlich-energetische Blockierungen, die eine ganzheitliche bio-emotionale Ausdrucksbewegung verhinderten. Reich sprach in diesem Zusammenhang vom Charakter- und Körperpanzer.

Drückte sich eine beliebige Emotion authentisch, unvermischt und vollständig aus, so ging damit ein Gefühl tiefer Erleichterung und Entspannung einher. Der Kontakt zur inneren Wahrheit, die ja gleichzeitig Wahrhaftigkeit des Herzens (»Hand aufs Herz«) ist, wurde unmittelbar spürbar.

Der Zugang zur Seele über die Arbeit mit dem Körper und seinen bio-emotionalen Prozessen führte deutlich vor Augen, dass das Seelenleben in seiner Tiefe Selbstregulationspotentiale enthielt. Missverstanden und negativ besetzt, mussten sie unzugänglich, in der Schublade des Beängstigenden, des Irrationalen, des zu Kontrollierenden verborgen bleiben.

Davon abgesehen, suchte, wie die Erfahrung lehrte, das so Ausgegrenzte als wesentlicher Teil der menschlichen Natur stets nach Schlupflöchern. Es umging den Kerkermeister des Denkens, wo immer sich eine Möglichkeit bot: Hier zeigte sich ein typisches Szenario des »innerseelischen Bürgerkriegs«, jenem niemals endenden Konflikt zwischen Gefühl und Vernunft, gefühlsmäßiger Wahrheit und Rationalität, Herz und Gehirn.

Weitere Fragen stellten sich. Wenn im Menschen von Kindheit an ein Stück Sisyphos angelegt wird, narzisstische Persönlichkeitszüge auf jeden zutreffen, musste das nicht auf Auswirkungen auf die therapeutische Arbeit haben? Wie wirkte sich das auf diese aus, welche Fragestellungen ergaben sich für die Körpertherapie?

Körpertherapeutische Herangehensweisen halfen, zurückgedrängte, blockierte Emotionen in die Persönlichkeit zu reintegrieren. Damit ging typischerweise eine Identifizierung mit den Gefühlen des »inneren Kindes« einher. Das Ego lernte, dies ließ sich immer wieder beobachten, sich mit den individuellen emotionalen Mustern zu identifizieren. Doch war mit dieser Reintegration der Transformationsprozess der Persönlichkeit vollständig?

Im Laufe der Zeit gewann ich den Eindruck, dass hier lediglich eine Umprogrammierung des narzisstischen Egos erfolgte. Zwar erweiterten zuvor blockierte Emotionen das seelische Gesichtsfeld, schufen in Stück Freiheit im Erleben und Verhalten. Denn die Körpertherapie ermöglichte, in der Kindheit abgespaltene, verdrängte Gefühle zu reintegrieren. Das Ich-Bewusstsein schloss das »innere Kind« liebevoll in die Arme. Das zwanghafte Denken des Ego-Verstands konnte so gelockert werden, an den Identifizierungen mit den Konstruktionen des Ego-Verstands veränderte sich ... nichts.

Beobachtungen zeigten: Das Perspektive des »Ich-Ich-ich«, die narzisstische Selbst-Bezogenheit verloren in diesem Prozess nicht etwa an Intensität, sondern nahmen zu. Allmählich gewann ich den Eindruck, als Egozentriker von lauter Egozentrikern umgeben zu sein. Wir alle waren nur mit uns selbst beschäftigt, kreisten um das eigene Wohlbefinden, um innerseelische Wetterumschwünge und die Irritationen der Umwelt, insoweit sie uns selbst betrafen.

Narzisstische Persönlichkeitsmuster nahmen nicht ab, sie zeigten sich potenziert. Ja, die Etiketten waren ausgetauscht. Wo vorher »die Anderen (Eltern, Lehrer, Gesellschaft) sind schuld« draufstand, las man »ich blicke viel besser durch, bin viel besser als die Anderen«. An der Haltung, die »Anderen« als Instanz und Gradmesser für die eigene Identität zu betrachten, hatte sich nichts geändert.

Ich stieß an die Grenze dessen, was ein körpertherapeutischer Prozess offenbar zu leisten imstande war. Das alte »neurotische Gleichgewicht« ersetzte man durch ein korrigiertes seelisches Konstrukt. Die alte Erzählung darüber, wer man glaubte zu sein, wurde gegen eine neue eingetauscht. Eine aufgehübschte Geschichte, die man sich selbst und den anderen in all dem erzählte, was aufschien.

Doch fühlte ich mich oder fühlte sich der Klient damit in Einklang mit sich selbst und seinem Leben? Vermochte ich jene Heimat und Frieden in mir wahrzunehmen, die ich verloren hatte? War die Selbst-Entfremdung damit überwunden? Führte jahrelange Körper- oder Psychotherapie zur wahrhaftigen Freiheit, innerlich und äußerlich, in Lebensumwelt, in Beziehungen?

Waren Spiegelungssucht, jene qualvolle Anstrengung des Sisyphos, der Drang nach Anerkennung und Bewunderung durch andere, das Defizit an Liebesfähigkeit, damit aufgehoben? Ließ sich dieser Weg als Beitrag zur Transformation der Persönlichkeit, zur Aufhebung der Selbstentfremdung, zur Befreiung aus der narzisstischen Falle betrachten?

(Fortsetzung folgt)

Montag, 15. Juni 2020

SEINSORIENTIERTE KÖRPERERFAHRUNG (268): Die Klarheit authentischer Emotionen

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Ich begann mich für die Schattenseiten der Geschichte der Tiefenpsychologie zu interessieren, für das Verdrängte, das Implizite. Ellenbergers Mammutwerk zur »Entdeckung des Unbewussten« verdeutlichte, wie umfänglich kulturelle und gesellschaftliche Faktoren auf ihre Entwicklung einwirkten. Arbeiten, die sich mit der Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs in der Psychotherapie und Psychotherapiegeschichte beschäftigten, öffneten die Augen für eine traurige Tradition von Grenzüberschreitungen.

Nebenher, aber nicht zu verleugnen, existierte das Phänomen narzisstischen Missbrauchs von Klienten. Ich gewann den Eindruck, dass es ebenso verbreitet wie tabuisiert war. In der Fachliteratur gab es zwar entsprechende Publikationen für den Bereich der Liebesbeziehungen, nicht aber im therapeutischen Kontext.

Die kulturelle Formung einer Überhöhung der Rationalität, die in der Psychoanalyse aufschien, ließ sich der Tradition der Aufklärung zuordnen (»wo Es war, soll Ich werden«): Verbarg sich dahinter nicht der Versuch, die Kontinente des scheinbar Irrationalen, des Wilden der Seele gedanklich zu erobern, zu entschlüsseln, sie der Kontrolle der Vernunft zu unterwerfen?

Kaschierten solche Vorstellungen die simplifizierende Formel: Denken = positiv – Fühlen etc. = negativ? Entsprach das nicht exakt den Prämissen, auf denen unsere (westliche) Kultur aufbaute?
Trafen sie das Wesentliche?

In meinen Erfahrungen als Körpertherapeut kam ich immer mehr zu der Wahrnehmung, dass die Welt der Gefühle, der Emotionen, der Intuition und des Instinktiven durchaus Klarheit, Eindeutigkeit und Gesetzmäßigkeit an sich besaßen, entwirrte man ihre Verstrickungen.

Die Welt der sog. Rationalität hingegen erschien mir zunehmend irrational, unberechenbar. Mit Worten und scheinbar rationalen Argumenten ließ sich offenbar jeder Wahnsinn und Irrsinn begründen, sei es im persönlichen oder gesellschaftlichen Lebensumfeld.

Das Bild des Irrationalen, das vom Gefühlsleben in unserer Kultur vorherrscht, ging auf ein grundlegendes Missverständnis zurück. Gab es nicht einen deutlichen Unterschied zwischen dem klaren, unvermischten Ausdruck authentischer Emotion und einer charakterlich verzerrten oder durchmischten Gefühlsäußerung?

Emotionen in der Kindheit wiesen zweierlei Qualitäten auf: Sie besaßen eine vegetative (Körpersprache, Mimik, Gestik, Laute) und eine qualitative Dimension (Eindeutigkeit, Klarheit). Der Gefühlsausdruck zeigte sich also gesamtheitlich. Wenn z. B. ein Kleinkind weinte, trauerte es in seinem ganzen Körper, in vollständigen Erleben. Freute es sich, lachte es vollumfänglich, alles im Kind drückte Freude aus, von den Augen bis in die Zehenspitzen.

Eindeutigkeit und Ganzheitlichkeit waren als (phylogenetische) Natur des emotionalen Gefühlsausdrucks zu betrachten, als universelle Sprache und biologisches Erbe. Diese Aussagen gelten unter Einschränkungen auch für die Tierwelt, z. B. ist ein Aggressionsausdruck bei Tieren leicht identifizierbar, insbesondere bei Säugetieren. Pionier dieser Forschungen war Charles Darwin. Sein Buch »Der Ausdruck der Gemütsbewegungen bei dem Menschen und den Tieren« darf als Pionierarbeit der Emotionspsychologie betrachtet werden. Auch Wilhelm Reich analysierte umfassend die Gesetzmäßigkeiten emotionaler Ausdrucksbewegungen. Er richtete seine Aufmerksamkeit bis auf die Ebene der Einzeller, beschrieb dort den Zusammenhang von Bewegungsausdruck und Emotion.

(Fortsetzung folgt)


Mittwoch, 29. April 2020

SEINSORIENTIERTE KÖRPERERFAHRUNG (267): Sisyphos oder die Sucht nach Spiegelung

Franz von Stuck: Sisyphos

Sisyphos wurde als der verschlagenste aller Menschen in der griechischen Mythologie beschrieben, überlistete und verspottete er doch die Götter. Er erhob sich über sie, ihre »göttergebenen Regeln«. Sisyphos gerierte sich lieblos, grandios; ein selbstbezogener Narziss, für den weder Bindung noch menschliche Wärme etwas galten. Ein kalt berechnender Vernunftmensch, nur auf seinen eigenen – scheinbaren – Vorteil ausgerichtet.

Am Ende holte ihn, wie jedes Lebewesen, der Tod. Der Totengott, den er vorher ebenfalls verspottet hatte, legte ihm eine schwere Strafe auf. Diese Sanktion ist das, was man als »Sisyphosarbeit« bezeichnet.

„Und weiter sah ich den Sisyphos in gewaltigen Schmerzen: wie er mit beiden Armen einen Felsblock, einen ungeheuren, fortschaffen wollte. Ja, und mit Händen und Füßen stemmend, stieß er den Block hinauf auf einen Hügel. Doch wenn er ihn über die Kuppe werfen wollte, so drehte ihn das Übergewicht zurück: von neuem rollte dann der Block, der schamlose, ins Feld hinunter. Er aber stieß ihn immer wieder zurück, sich anspannend, und es rann der Schweiß ihm von den Gliedern, und der Staub erhob sich über sein Haupt hinaus.“(Homer: Odyssee, 11. Gesang, 593–600)

Gemahnte nicht jede Anstrengung, jene Liebe in der Außenwelt zu finden, die man in sich selbst nicht »wahr«zunehmen vermochte, an das Schicksal des Sisyphos? Der Schmerzkörper geriet zur Triebkraft dieses Zwangs, des Zwangsverhaltens, der Qual, des Leids, dieser nicht endenden Geschichte ohne Happyend.

Die Sucht nach Spiegelung steht als Mal auf der Stirn geschrieben. Ein Display, das dazu auffordert: »Bitte folgen!« Folge meinen Ansichten, Vorlieben, Werten, Geschmäckern, Meinungen, Gedanken, Erzählungen usw.

Indem Sisyphos seine ganze Energie auf die Außenwelt, auf äußere Erfolge richtete, blieb er seiner inneren Ressourcen beraubt, sich selbst ein Leben lang fremd. So war er verdammt dazu, weiterzusuchen. Verbissen, zwanghaft, qualvoll, ein willfähriges Opfer seiner Weltkonstruktion.

Eigenartig. In mir wuchs allmählich die Erkenntnis, dass Narzissmus, die Gier nach den anerkennenden Reaktionen der Anderen, verbunden mit innerer Beziehungslosigkeit, weit mehr darstellte als die Pathologie einer »Persönlichkeitsstörung«, wie ich es gelernt hatte. Sie stellte die vorherrschende Lehrmeinung seit Kohut dar. Ich gewann den Eindruck, dass Phänomene des Narzissmus in jeder Persönlichkeit und in jeder Entwicklungsphase aufschienen, in unterschiedlichen Erscheinungsformen. Sie präsentierten sich ubiquitär, überall um mich herum.

Nahm das niemand wahr? Wenn selbst die tiefenpsychologischen Lehren den Wald vor lauter Bäumen nicht sahen, dann musste hier etwas im Dunkeln geblieben sein. Zeigte sich eine Schattenwelt, die nicht ebenso in der Geschichte der Psychotherapie wirkte?

In der Tat. Grandiositätsphantasien und befremdliche Prämissen zogen sich wie ein roter Faden von Freud über Jung und Reich bis in die aktuelle Generation von Therapeuten. Beispielsweise schrieb ein noch unbekannter 28-jähriger Freud 1885, lange vor der Psychoanalyse, an seine Verlobte: »Ich habe alle meine Aufzeichnungen seit 14 Jahren und Briefe, wissenschaftliche Exzerpte und Manuskripte meiner Arbeiten vernichtet ... Die Biographen aber sollen sich plagen, wir wollen’s ihnen nicht zu leicht machen. Jeder soll mit seinen Ansichten über die ‚Entwicklung des Helden‘ Recht behalten, ich freue mich schon, wie die sich irren werden«. (zit. Nach Ernest Jones: Das Leben und Werk von Sigmund Freud, Band 1: Die Entwicklung zur Persönlichkeit und die großen Entdeckungen 1856–1900. Bern, Stuttgart 1960, S. 10 f.)
Ähnlich bei Jung und Reich lassen sich Beispiele für Grandiositätsphantasien, Egomanie und Messianismus finden, Letzterer phanasierte sich in seiner späten Lebensphase entweder als Außerirdischer oder neuer Christus. Ein gewisser Grad von Berühmtheit kaschiert allzu bald die dahinter verborgene Grandiosität. Vielleicht bildet die Egomanie eine Voraussetzung jeder Entwicklung zur Popularität.

(Fortsetzung folgt)

Donnerstag, 23. April 2020

SEINSORIENTIERTE KÖRPERERFAHRUNG (266): Schmerzkörper, emotionale Pest und Spiegelungssucht

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Ich beschreibe hier Vorgänge, in dem der die sekundäre Schicht bzw. der  Schmerzkörper getriggert werden. Sie lassen sich gleichermaßen im individuellen wie im sozialen Kontext beobachten. Die Besetzung von Macht und Geld wäre hier ebenso zu nennen wie jede Form des Fanatismus und pathologischem Sendungsbewusstseins. Auf einer unbewussten Ebene dient jede Form von Macht dem Schutz des Schmerzkörpers vor Angriffen, die zu einem Aufbrechen der inneren Wunden führt. Geld, als wesentliches Machtinstrument, dient der gleichen Funktion.

Verachtung und Hass nähren sich aus dem Schmerzkörper, manifestieren sich grandiosen Konstrukten des Ego-Verstands, in denen die eigene Weltsicht mit aller Gewalt zur Absoluten erhoben wird. Sie entladen sich beispielsweise in fundamentalistischen Feldzügen, in Gewaltherrschaft und Terror.

Häufig verbinden sich die Schmerzkörper einer Gruppe von Menschen, definieren ein gemeinsames Hass-Objekt. Solche Vorgänge beginnen beim »Mobbing«, treten bei den sog. »Wutbürgern« zum Vorschein und enden im rechtsextremen oder islamistischem Terror. Der innerseelische Bürgerkrieg bildet auf diese Weise den Nährboden für den realen Bürgerkrieg. Nicht nur die Geschichte, auch die Gegenwart ist reich an Beispielen für dieses Phänomen.

Die soziale Verbindung der Schmerzkörper Einzelner funktioniert als Dominoeffekt. Reich nannte es »emotionale Kettenreaktion« oder »emotionale Pest«. Das phylogenetische Erbe, das sich in der gesellschaftlichen Natur des Menschen ausdrückt, präsentiert in solchen Erscheinungsformen seine Schattenseite. Ausgrenzungsprozesse von Minderheiten, ebenso die Zerstörung der Umwelt, gehen zwangsläufig einher mit der Verleugnung von Mitgefühl im Seelenleben des Einzelnen. Die jeweilige Ideologie, d. h. die Rationalisierungs- und Erklärungsmuster, setzt eine Attraktion von Zugehörigkeit in Gang und stabilisiert sich, indem sie andere Menschen zum Sündenbock erklärt. Eine Zugehörigkeit, die auf der Verbindung der Schmerzkörper beruht, welche sich in der jeweiligen Erzählung wiederfindet.

Das, was im Seelenleben des Einzelnen in Gestalt des »innerseelischen Bürgerkriegs« aufscheint, indem Gefühle oder Bereiche der Seelenlebens ausgegrenzt, verachtet oder diskriminiert werden, potenziert sich im sozialen Zusammenhang als gesellschaftliche Gewalt.

Kommen wir auf unser Gedankenexperiment zurück. Die Bezugsperson, die ihr Kind mit rationalen, beziehungslosen Erklärungen zu beruhigen versucht, ist ebenso befangen wie gefangen. Gebannt in ihrem eigenen psychischen Universum, zwischen Verstand und Schmerzkörper. Das Gefängnis ihrer Persönlichkeitsstruktur blockiert die Einfühlung in das seelische Erleben ihres Kindes.

Schmerzkörper, »sekundäre Schicht« und der damit verwobene innerseelische Bürgerkrieg verschließen die Ressourcen des Herzens und der liebenden, mitfühlenden Natur in uns. Wenn diese Verbindung blockiert ist, stehen nur Selbstentfremdung, Identifizierung mit Schmerzkörper und Ego-Verstand als Instrument der Selbst- und Weltwahrnehmung zur Verfügung.

Der verlorene Kontakt zum Selbst zieht eine tiefe Verunsicherung und Haltlosigkeit nach sich. Die Suche nach dem Verlust löst Sehnsucht nach Heil und Heilung aus. Sie wird zum Antrieb für die Sucht nach Aufmerksamkeit, Spieglung, Bestätigung.

Da der Weg in das innere Universum durch den Schmerzkörper versperrt ist, richten sich diese Anstrengungen nur noch auf die Außenwelt. Was man sich selbst nicht gibt, wird nun in den Reaktionen seiner Lebensumwelt herbei gesehnt. Dies erinnert an ein Kind, das seine Bindungsbedürfnisse dort adressiert, wo es Antwort erhofft.

Selbstbeziehungsdefizite entwickeln sich gleichermaßen zum Motor jener Verhaltensmuster, in denen die Suche nach Selbst-Bestätigung aufscheint. Dabei hat die Außenwelt die Aufgabe zu spiegeln, was man für seine Persönlichkeit hält: Jene Konstruktion, jene Erzählung, die man als Identität, »Ich«, setzt.

Doch Heilung findet nicht statt. Insgeheim spürt man, dass da etwas nicht stimmt. Wer sich selbst nicht liebt, nicht mit sich in Einklang lebt, der wird kein Vertrauen dazu gewinnen, von jemand anderem geliebt zu werden. Misstrauen und innere Selbstentfremdung verhindern es. Die Suche, Antwort von Außen, äußerliche Antworten zu erhalten, geht weiter. Das Spiegelungsbedürfnis entwickelt sich zur Sucht, zum Persönlichkeitsmuster, zum Lebensinhalt. Es gemahnt an die Strafe des Sisyphos.

(Fortsetzung folgt)

Sonntag, 19. April 2020

SEINSORIENTIERTE KÖRPERERFAHRUNG (265): Innerseelischer Bürgerkrieg und Schmerzkörper

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Die inneren Konflikte werden zum Teil der Persönlichkeit, manifestieren sich als »innerseelischer Bürgerkrieg«. Denn die abgelehnten, dem Verstand geopferten Seelenanteile bleiben unbequem. Sie wehren sich gegen die Diktatur des Rationalen, sind nicht auszulöschen. Sie verändern ihren Charakter, indem sie sich in wachsendem Umfang mit dem Schmerz der Ungeliebten vereinen. Erwachsen zu dem, was Eckart Tolle als »Schmerzkörper« bezeichnet.

Der Schmerzkörper wird im menschlichen Verhalten wahrnehmbar. In Beziehungen vermag er auf eine Weise getriggert zu werden, die verblüfft. Plötzlich verwandelt sich ein scheinbar friedlicher Mensch in sein schieres Gegenteil, verdunkelt sich, beißt, ohne vorher zu bellen oder zieht sich in sein Schneckenhaus zurück, erstarrt, bleibt unerreichbar.

Sei es, dass eine alte, unbewusste Wunde berührt, sei es, dass eine lapidare Bemerkung als existentieller Angriff erlebt wurde: Der Himmel verdüstert sich, ein destruktives emotionales Gewitter bricht hervor oder ein lebendiger Mensch erstarrt zur Salzsäule, verliert sich in Ritualen des Selbsthasses.

Betrachten wir diesen Vorgang genauer, wird erkennbar, dass solche überschießenden Aktions- im Grunde Reaktionsmuster darstellen. Ein Blick, eine unbedarfte Bemerkung, eine Geste reichen aus, um den Schmerzkörper zu aktivieren, um als existentielle Bedrohung wahrgenommen zu werden.
In Wahrheit sind es unbewusste schmerzvolle Erinnerungen, die getriggert werden, verdrängte Gefühle, die an die Oberfläche drängen. Sie richten sich gegen die Außenwelt, gegen andere, aber ebenso gegen die eigene Person: ersteres wäre die aggressive, letzteres die depressive Variante.

Die Intensität dieser emotionalen Reaktionen schenkt uns einen wertvollen Hinweis: Die kindliche Seele nahm sie damals schon existentiell bedrohlich wahr und ihre Anpassung an die Kultur ist nicht nur ein überaus schmerzhafter Prozess, sondern ein niemals fertiggestelltes Endlager des Leids: der Schmerzkörper.

Die sog. »soziale Maske«, wie Reich sie bezeichnete, repräsentiert jenen Teil von Zivilisierung, der normalerweise vor den allzu eruptiven Impulsen der »sekundären Schicht« schützt. Persönliche und soziale Krisen führen dazu, dass dieser Schutz nur unzureichend oder gar nicht mehr funktioniert. Kriminalität, Terrorismus, Rassismus, Krieg und Bürgerkrieg betrachte ich als Erscheinungsformen entfesselter »sekundärer Schicht« im sozialen Kontext.

(»Sekundäre Schicht« und »Schmerzkörper« setze ich hier identisch. Als sekundäre Schicht bezeichnete Reich das Sammelsurium all jeder unerwünschten und verdrängten Gefühle, die normalerweise unter der »sozialen Maske« verborgen bleiben und unter krisenhaften Umständen zum Ausdruck gelangen.)

(Fortsetzung folgt)

Montag, 13. April 2020

SEINSORIENTIERTE KÖRPERERFAHRUNG (264): Der Großinquisitor des Gefühlslebens

 
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Schauen wir uns das Ritual der "Erklärung“ genauer an. In ihren Aussagen ist die Wahrheit über unsere ganze Kultur enthalten: Den Kindern wird vermittelt, dass es Erklärungen für Gefühle (hier für die Angst) gibt oder geben muss. Solche Vorstellungen vermitteln den Eindruck, als ob Emotionen nach dem Ursache-Wirkungs-Prinzip funktionieren. Es suggeriert, dass die logisch-rationale Gesetzmäßigkeit für ganze Gefühlswelten gilt. Typische Fragen lauten: »Warum weinst du? Warum hast du Angst? Warum bist du jetzt wütend?«

Eltern kennen die kindliche »Warum-Phase« zwischen dem 3.–4. Lebensjahr. Hier manifestiert sich die Absicht, die innerseelische Wirklichkeit mit der Wahrnehmung der äußeren Welt in Einklang zu bringen, beide Bereiche den Gesetzmäßigkeiten der Ursache-Wirkung-Logik zu unterwerfen. Wie nervtötend oder belustigend dieser Prozess auf Erwachsene auch wirken mag, er repräsentiert die besessene bis verzweifelte Anstrengung, die Realitätskonstruktion seiner Lebensumwelt  einzustudieren. Denn in dieser Lebensphase findet nicht nur die sog. »Ich-Entwicklung«, sondern ebenso der Prozess der Identifizierung mit der kulturellen Weltkonstruktion ihren Abschluss.

Dazu gehört die Vorstellung, dass Gefühle eine logische Ursache zu besitzen haben. Denn diese gelten nicht als unabhängig vom Denken, nicht als spontaner, vitaler Ausdruck des Selbst im Hier und Jetzt, nicht als natürliches Geschenk der Seele für Selbstregulation und Selbstheilung. Nein, Gefühle sind der Kontrolle des Verstandes zu unterwerfen. Wenn sie schon da sind, benötigen sie eine rationale Legitimation, ein Motiv. Ein Motiv, wie es in jedem Kriminalfilm der Täter benötigt, um verurteilt zu werden.

Der Verstand führt sich als Herrscher über das Gefühlsleben auf, als Großinquisitor der emotionalen Wirklichkeit. Der Ego-Verstand erklärt das eine Gefühl für akzeptabel, das andere für negativ, bedeutungslos, unwichtig, peinlich, animalisch oder wie auch immer das Urteil lautet.

Das Ganze ließe sich als ein „innerseelisches Patriarchat“ bezeichnen: Der Verstand, die Ratio, die Vernunft, die Wissenschaft usw. sind alles; Gefühl, Intuition, Instinkt, Körper, das spontan Lebendige, Authentische, die Natur in uns bilden das, was es zu beherrschen und zu unterwerfen gilt. Genauso sieht unsere Welt noch aus.

Dies alles lässt erahnen, wie grundlegend der Konflikt zwischen innerem Erleben und sprachlicher Veräußerung, Fühlen und Denken, Herz und Verstand angelegt wird.

Zudem bilden sich unterschiedliche persönlichkeits- und kulturspezifische Ausprägungen heraus, die es zu differenzieren gilt. Individuell dürfte das Verhältnis zwischen einfühlsamen Reaktionsmuster und verbal-logischen Kontaktabbrüchen prägend sein. Im kulturellen Kontext ließen sich Einflussfaktoren dessen entdecken, was als »Mentalität« bezeichnet wird.

Wie manche Lebensweisen kühl und nüchtern daher kommen, andere als emotional und temperamentvoll, so erscheint es plausibel, dass hier unterschiedliche Erziehungsstile auf einen Landstrich, ein Volk oder eine Nation einwirken. Identifizierungen mit gewissen Mentalitäten gelten unbewusst dem Erziehungsstil, den man selbst durchlaufen hat, stellen demnach kein Mysterium dar.

(Fortsetzung folgt)

Samstag, 11. April 2020

SEINSORIENTIERTE KÖRPERTHERAPIE (263): Reaktionsmuster auf kindliche Angst

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Stellen Sie sich folgende Schlüsselszene vor: Eine Mutter geht mit ihrem Kleinkind die Straße entlang. Plötzlich erschüttert ein tieffliegender Hubschrauber die Stille. Das Kind, das dies zum ersten Mal erlebt, erschrickt und versteift sich, weint laut auf vor Angst.

Eine Mutter kann u. a. auf dreierlei Weise reagieren

•    Die instinktive Reaktion wäre, ihr Kind auf den Arm zu nehmen, zu halten und zu umarmen.
•    Ein anderes vorstellbares Reaktionsmuster wäre, das Kind in seiner Angst zu ignorieren und keinerlei Resonanz zu zeigen (»Kontaktlosigkeit«).
•    Eine dritte Variante wäre eine »verbal-logische Reaktion«: Die Bezugsperson reagiert mit Erklärungen, z. B.: »Das ist doch nur ein Hubschrauber. Da brauchst du doch keine Angst zu haben!«

I.
Die instinktive Variante wäre die gattungsgeschichtlich naheliegende. Der Bindungsforscher John Bowbly, leider erinnere ich mich nicht mehr, wo in seinen Büchern ich die Stelle gelesen habe (ich bitte um Nachsicht, falls hier einige Details ungenau wiedergegeben werden), beschrieb die Szenerie einer Affenhorde im Urwald. Dabei löste ein Tiefflieger Panik unter den Jungtieren aus, die zum ersten Mal mit diesen lauten Geräuschen konfrontiert wurden. Die jungen Affen sprangen instinktiv in den Arme der älteren Tiere, die sie umarmten und hielten, bis die Angst verebbte. Bemerkenswert war, dass es sich um ältere, lebenserfahrene Affen handelte. Verwandtschaft oder Elternschaft spielte keine Rolle.

II.
Im Szenario der Kontaktlosigkeit wird sich das Kind halt- und resonanzlos in seinen Gefühlserleben erfahren. Häufen sich derartige Erfahrungen, mangelt es u. a. an dem, was der Pionier des Säuglingsforschung Daniel Stern als »affect attunement«. Stern hat den Begriff Attunement geprägt, einen Begriff, für den im Deutschen meist der Terminus Rapport oder Kontingenz verwendet wird. Die Begrifflichkeit ist schwer übersetzbar und meint den sehr komplexen Vorgang, wie zwei Menschen sich in ihrem Rhythmus und ihren Gefühlen aufeinander einstimmen und dann innere Zustände miteinander teilen. Anzuführen wäre hier unter anderem das Spiel mit amodalen Entsprechungen zwischen Mutter und Kind: Die Mutter setzt Bewegungen und freudige Gestimmtheit des Kindes in Laute, Rhythmus, Kopfnicken etc. um. Dieses Teilen des inneren Zustandes bewirkt das Herstellen von Gemeinsamkeiten über spielerische Interaktion auf einer amodalen Ebene.« (Aus: Wikipedia, Artikel zu Daniel Stern – Psychoanalytiker)

Ich übersetze es mit »affektive Einstimmung«. Hier verorte ich eine die Quelle dessen, was ich als »Spiegelungsbedürfnis« bezeichne.

Defizite an Resonanz und Selbstwirksamkeit werden zur prägenden, persönlichkeitsbildenden Erfahrung. Diagnostisch lassen sich hier Persönlichkeitsstrukturen zuordnen, die in der Psychopathologie als »frühe Störungen« zusammengefasst werden.

Es lässt sich leicht nachvollziehen, dass die Erfahrung, sich haltlos in seinen Emotionen zu erleben, tiefe Spuren im Seelenleben hinterlässt. Eine lebenslange Suche nach Spiegelung, die bei ausgeprägten Frühstörungen ins Auge fällt, kann damit in Zusammenhang gesehen werden.

III.
Die 3. Variante betrachte ich als charakteristisches Prägungsmuster, welches für das Hintergrundszenario des »innerseelischen Bürgerkriegs« maßgeblich ist. Es findet sich typischerweise in bürgerlichen Sozialschichten, erscheint prägend für die vorherrschenden Persönlichkeitsmuster der westlichen Gesellschaften.

Hier besteht die Reaktion nicht in einer energetischen Zuwendung, sondern in der energetischen Abwendung. Die Bezugsperson entzieht sich dem Kontakt mit der Angst des Kindes, indem sie sich auf die Ebene der Sprache, des analytischen Denkens und der Erklärungen begibt. Stellt man die Frage, was sie dazu motiviert, ist unschwer zu erkennen, dass es der eigenen Angstabwehr dient. Es spricht vieles dafür, dass die Bezugsperson ähnliche Lektionen in ihrer eigenen Kindheit gelernt hat.

Von Generation zu Generation werden u. a. folgende »Lektionen für das Leben« vermittelt: »Ich ignoriere deine Angst, sie ist belanglos, berührt mich nicht.«, »Du musst deine Gefühle nicht so wichtig nehmen«, »Meine Erklärungen sind bedeutsamer als Angst« und allgemein: »Des Menschen Worte sind wichtiger als jedes Gefühlserleben«. 

(Fortsetzung folgt)

Mittwoch, 8. April 2020

SEINSORIENTIERTE KÖRPERTHERAPIE (262): Vorbemerkung zur langen Pause und Exkurs

foto: vkd

Es ist erstaunlich und motivierend, dass trotz der Regungslosigkeit, was Posts von mir betrifft, es einen ständigen Fluss von Besuchern und bisweilen sogar Abonnenten gab. Danke dafür.
Nicht zuletzt die Corona-Krise, die gegenwärtig bisher Verdecktes an die Oberfläche trägt, bietet mir ein Zeitfenster für eine neue Runde von Postings.
Immerhin jährt sich im Mai ein ganzes Jahr, seit ich hier etwas veröffentlichte. Erstaunlich. Erstaunlich aber auch, dass es ganze 261 Beiträge waren, die wohl immer noch hier da trotz der langen Pause ihre Leser fanden. Wie auch immer, jetzt fällt der Startschuss zu einer neuen Runde.
Wie zuvor entstammen die folgenden Veröffentlichungen den Vorarbeiten zu meinem noch unveröffentlichten Büchern. Ich habe seit einiger Zeit damit begonnen, den 1. Band noch einmal vollständig zu überarbeiten und zu erweitern, bevor er in Buchform der Öffentlichkeit präsentiert wird. Es war gut, das Manuskript über viele Monate nicht mehr anzufassen. Der zeitliche Abstand löste neue schöpferische Impulse aus, die, so hoffe ich, meine Betrachtungen in hellerem Licht erscheinen lassen.  
Die Postings, mit denen ich heute beginne, entstammen diesen textlichen Erweiterungen. Sie beginnen mit einem Exkurs zum Thema „Innerseelischer Bürgerkrieg“.
Wie immer freue ich mich über Rückmeldungen und wünsche meinen Lesern eine anregende Lektüre.

DIE WUNDE DES UNGELIEBTEN

»The First Cut is the Deepest«
(Cat Stevens)

»Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort.
Sie sprechen alles so deutlich aus.
Und dieses heißt Hund und jenes heißt Haus,
und hier ist der Beginn und das Ende ist dort.«
(Rainer Maria Rilke)

Im »innerseelischen Bürgerkrieg« werden Persönlichkeitsanteile unterdrückt, abgewertet, abgespalten, ignoriert. Dabei unterwirft der Galeerentreiber des Ego-Verstands Körper und Seele gnadenlos seinen Wirklichkeitskonstrukten. Dies geschieht von frühester Kindheit an. Die Tiefenpsychologen sprechen von »Ich-Entwicklung«.
Dieser Prägungsprozess, einhergehend mit der Sprachentwicklung des Kindes, beinhaltet die Sonderung von Seele und Verstand.
Als »Seele« definiere ich all jene angeborenen menschlichen Potentiale und Zugänge zum Leben, die nicht dem logischen Denken zuzuordnen sind: die Welt des Herzens, der Gefühle und Emotionen, die instinktiven und intuitiven Fähigkeiten, die Eingebungen, Visionen und andere sog. »übersinnliche Wahrnehmungen«. Gleichzeitig umrahmt der Begriff »Seele« die Dualität von psychologischer und spiritueller Natur des Menschen.
Das Kind lernt sukzessive, sprachlichen Erklärungen, Definitionen und Begriffen mehr zu vertrauen als seiner innerseelischen Wirklichkeit. Dies geschieht nicht ohne Dramen, das Kind erfährt all dies in  schmerzhafter Weise. Ein Schmerz, den es verdrängt, um zu überleben. Das charakterbildende Resultat bildet die »Selbstentfremdung«: Das Selbst bleibt dem Einzelnen von da an fremd. Die Suche nach dem Verlust manifestiert individuelle Vorstellungen des Absoluten: religiöse Gewissheiten, politische Ideologien und die unzähligen kleinen alltäglichen Urteile und Spiegelungen, die in der äußeren Welt denjenigen Halt verheißen, der in der inneren Welt verloren gegangen ist.

(Fortsetzung folgt)