Montag, 31. Dezember 2018

SEINSORIENTIERTE KÖRPERTHERAPIE (254): Wege zur Erleuchtung

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Bemerkenswerte Übereinstimmung zwischen östlicher und westlicher Mystik fand sich in dem Motiv des Weges (sanskrit Marga, japanisch do, chinesisch tao): »Der klassische Dreischritt begegnet ins  vielen Zeugnissen mystisch-religiöser Erfahrung. Er ist zum Beispiel bei Bernhard von Clairvaux vorgebildet. Der unterscheidet die erste Stufe der Reinigung bzw. der Reue über die Verfallenheit des sündigen Menschen, die zweite Stufe der Erleuchtung und schließlich die dritte Stufe, die zugleich das Ziel des mystischen Weges bezeichnet: die Vereinigung (unio mystica).«[Wehr, Gerhard (2006), S. 33]

Die erste Stufe des mystischen Weges, die Reinigung, via purgativa, erinnerte unmittelbar an das Phänomen der energetischen Katharsis, wie ich sie aus der reichianischen Körpertherapie, der Crisis bei Mesmer und ähnlichen Methoden kannte. Der befreiende Effekt der Katharsis bestand darin, dass blockierte Emotionen, vegetative Ausdrucksbewegungen und zurückgehaltene Impulse in befreiender Weise artikuliert werden. Man fühlte sich energetisch und seelisch gereinigt, erleichtert und entspannt, häufig dem Herzen als Zentrum tief empfundener, transpersonaler Liebe verbunden.

Mir sind keine Schilderungen kathartischer Erfahrung von Mystikern des Mittelalters in Detail bekannt, die vorhandenen Zeugnisse deuten an, dass es sich um ähnliche Phänomene handelte. Hatten Grenzerfahrungen jeder Art, Selbstkasteiungen und religiöse Praktiken hier einen Einfluss? Welche Anteile besaßen Beten und andere christliche Rituale an solchen kathartischen Erlebnissen? Hier lässt sich nur spekulieren.

Offensichtlich erscheint, dass durch wiederholte Erfahrungen dieser Art sich eine Erhellung des inneren Lichts von den den verdunkelnden Schatten des Egos entfaltete. Ein veränderter Blick auf die Wirklichkeit eröffnete sich: »Selig sind, die reinen Herzens sind, denn sie werden Gott schauen.«(Matthäus 5, 8)

Diese »via illuminativa« entsprach jenem Aufwacherlebnis [Wehr, Gerhard (2006), S. 35], in dem die Natur des Herzens als Instanz der Verbindung mit dem ganzen Sein aufscheint und präsent wird.

Erleuchtungserlebnisse bilden kein Privileg östlicher spiritueller Wege, sondern finden sich ebenso in der christlichen Tradition. Sie scheinen ähnlich eng an die geistige Welt des Christentums angebunden zu sein wie die der Sufis an den Islam.

Die Gnade der Erleuchtung wurde in der dritten Stufe des mystischen Weges gekrönt durch die »via unitiva« oder »unio (communio) mystica«, die mystische Gemeinschaft mit Christus, oft als »mystische« oder »geistliche« Hochzeit bezeichnet. Die Vereinigung mit Christus und Gott repräsentiert das Ende des Weges der Gottsuche, in ihr vollzieht sich Gottfindung.

Es wird deutlich, dass der mystische Weg, das mystische Erkennen einhergeht mit tiefgreifenden Veränderungen der Person. Dies gilt für alle Stufen oder Entwicklungsschritte.

(Fortsetzung folgt)

Dienstag, 25. Dezember 2018

SEINSORIENTIERTE KÖRPERTHERAPIE (253): Mystik und mystische Wege

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Wie bei vielen meiner Zeitgenossen führte mein Interesse, mehr über die Mystik zu erfahren, zunächst in den Osten. Kahlil Gibran und sein Prophet [Gibran, Khalil (1973)] war seit langem ein Bestseller, Osho mit seiner multimedialen Präsenz in den 80er und 90er Jahren gaben erste Hinweise. Die christliche Mystik des Mittelalters, geprägt von Meister Eckhart, Hildegard von Bingen, Heinrich Seuse, Johannes Tauler und einer Vielzahl von Frauen, die wenige Spuren hinterließen, blieben mir lange mit ihren Werken unbekannt.

Die fernöstlichen Ansätze der stillen und der Bewegungsmeditationen, der Atem- und Reinigungstechniken, des Yoga etc. erschienen näher und naheliegender als jene Praktiken des Christentums, die den Weg nach innen ermöglichen.

Überhaupt erstaunte es, dass es, nicht nur bei mir selbst, so wenig Verbindung zu den mystischen Traditionen des Christentums gab. Woran lag das? Ähnlich wie die Sufis im Islam wurden die christlichen Mystiker immer wieder der Häresie bezichtigt, bekämpft und verfolgt. Am Ende hinterließen sie wenige Spuren im kollektiven Gedächtnis, was vermutlich mit der Zäsur in Zusammenhang stand, welche mit der Reformation einherging.

»Keine äußere Autorität, auch kein kirchliches Lehr- oder Führungsamt bindet oder bestimmt den Mystiker. Viel wichtiger ist ihm jener ‚helle Schein‘, jene sein ganzes Leben erfüllende Erfahrung, die keine Stütze oder Rechtfertigung von außen her nötig hat ...
Mystik ist spirituelle Erfahrung, und zwar eine Erfahrung, die der Geist (Pneuma) Gottes schenkt und die jeweiligen Grenzen des menschlichen Erkennens, Begreifens, Fühlens und schließlich auch des Wollens sprengt; eine Erfahrung, die auf diese Weise den Menschen in seiner Wesensmitte verändert.« [Wehr, Gerhard (2006), Die deutsche Mystik S. 25]

Es waren folgende Aspekte, die ins Auge sprangen und für alle mystischen Traditionen zutrafen:

•    Mystik tritt als Gegenbewegung zum religiösen Mainstream, zur herrschenden Lehre, der Kirche auf. Trotz vorhandener Schwankungen ihres kulturellen Einflusses und Akzeptanz bildeten Mystiker eine Minderheit.
•    Der spirituelle Weg nach innen bedarf, wie im Zitat angedeutet, keiner äußeren Form oder Autorität. In dieser Hinsicht besitzt er durchaus anarchistische, anti-etatistische Wesenszüge, was ihn in den Augen der Herrschenden schwerer kontrollierbar macht.
•    Beides, die Tatsache der Minderheitsströmung und ihr anarchistischer Charakter, macht die Mystik historisch anfällig für jede Art von Diskriminierung, Verfolgung und der damit einhergehenden Organisationsstrukturen von Orden, Geheimgesellschaften und Sekten.
•    Der Mystiker strebt nach der Erfahrung des Göttlichen in der Seele, nicht nach der Erklärung Gottes auf der Ebene des Verstandes. Er sucht die Erleuchtung durch das Licht im Herzen, nicht nach seiner mathematisch-physikalischen Formel. Er fühlt sich angezogen von der Ekstase der Wahrheit, nicht von seiner theologischen Definition. Er wendet sich von der Dominanz des Ego-Verstandes ab und der Stimme des Herzens zu.
•    Mystische Erfahrung bleibt in der Tiefe ein individuelles Erleben, im Gegensatz zu Gottesdienst und Liturgie der Kirche. Es geschieht oder es geschieht nicht. Keine Repräsentanz, keine Stellvertretung, keine ritueller Akt kann diese »Selbst-Erfahrung« ersetzen. Das mystische Erleben erweist sich so als Akt absoluter Hingabe an die innere Seelenwelt.

(Fortsetzung folgt)

Sonntag, 2. Dezember 2018

SEINSORIENTIERTE KÖRPERTHERAPIE (252): Von der großen Wortklimakatastrophe

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Und heute? Ist Poesie in unserer narzisstischen Ära ein atavistisches Überbleibsel einer vergangenen Ära? Erstaunlicherweise findet sich im Internet eine ganze Menge Poesie, schaut man genauer hin. Ein Widerspruch auf den ersten Blick: Denn im Grunde repräsentiert Poesie/Lyrik genau das Gegenteil von dem, was uns, im Alltag und speziell im globalen Dor, tagtäglich umgibt: Atemlosigkeit, Gehetztsein, Überfliegen von Informationen, Unruhe.

Dazu passt Lyrik gar nicht, oder?

Poesie verlangt Aufmerksamkeit. Um ihr zu begegnen, bedarf es der Konzentration, der Achtsamkeit, sie verlangsamt Gerichtetsein: nicht das periphere Vorbeihuschen, das Erfassen von möglichst vielen Informationen in optimal kurzer Zeit ist hier gefordert, sondern die Kontemplation, die Versenkung, die Achtsamkeit für Worte oder einen einzigen Satz.

Poesie fordert Denk- und Assoziationsfähigkeiten heraus, spricht beührbare Dimensionen der Seele an und vor allem: den Kontakt dieser Persönlichkeitsfundamente, die Verbindung von Herz/Intuition/Gefühl und Verstand/Wissen/bewusster Erfahrung.

Poesie ruft nach der Stille – die Stille um uns und die Stille in uns, denn nur in der Stille wird Resonanz der leisen Töne hörbar. Das steht im Gegensatz zum Lärm unserer Zeit.
Poesie ist die kleine Schwester der Phantasie, der Utopie, der Transzendenz der Realität, sie dringt über das hinaus, was ist, sie sucht nach Antworten aus den Tiefen der Inspiration, des intuitiven Wissens, dessen Spielräume und Rathäuser in dieser Welt seltener werden.

Sicher ließen sich manche andere Aspekte hier nennen, die allesamt belegen, wie peinlich, wie vorsintflutlich Poesie in diesen atemlos-modernen Zeiten ist, ein ständiger Quell des Fremdschämens.
Ist das alles, was dazu zu sagen ist?

Nein. Es gibt ja bei dieser Bestandsaufnahme Elemente, die das Gesagte in ein anderes Licht tauchen.
Beginnen wir mit der optimistischen Feststellung, dass den Menschen etwas mehr ausmacht als perfekte Entsorgungsautomaten für das weltweite Netzwerk der Geschwätzigkeit oder die postmoderne massenmediale Geistentleerung zu sein: Lebewesen mit Gefühl und Verstand, mit Phantasie und spielerischer Neugierde. Kinder, denen suggeriert wurde, dass Erwachsensein heißt, diese Persönlichkeitselemente in sich zu ersticken. Der Zeitgeist drängt darauf, dass solche menschlichen Eigenschaften in der Inflation der Wörter sang- und klanglos untergehen oder werbepsychologisch instrumentalisiert werden. Die Gattung Mensch steht so im Begriff, in der Sintflut der Wörter und Informationen zur Sprachlosigkeit verdammt zu sein: Das nenne ich die »große Wortklimakatastrophe«.

Hier noch der Link zu meinem Lyrik-Blogg "Eintagsliebe"

(Fortsetzung folgt)

Sonntag, 25. November 2018

SEINSORIENTIERTE KÖRPERTHERAPIE (251): Die Schamlosigkeit von Liebeslyrik

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Für mich wurde das Schreiben von Liebeslyrik ein Weg, in der die Stimme des Herzens ihren Ausdruck findet. Nicht nur personale und biografische Begegnungen finden hier ihre künstlerische Verarbeitung, sondern auch transpersonale, spirituelle Dimensionen der Liebe werden in diesen Gedichten thematisiert.

Wenn sie den einen oder anderen Leser berühren, in ihm ein Nachempfinden, Nachschwingen oder Mitfühlen auslösen, dann ist dies der kleine, bescheidene Beitrag des Dichters, die Welt an ihr Herz zu erinnern.

Lyrik vermag der Sprache des Herzens ebenso ihren Ausdruck zu geben wie Musik, bildende Künste oder andere Formen kreativen Schaffens, welche die Tiefe der Seele berühren.

Hand auf’s Herz: Die Sprache des Herzens ist ein universeller Selbstausdruck, der, verschüttet, verdrängt oder verzerrt, in jedem Menschen lebt und auf Antwort wartet, bisweilen laut, manchmal leise oder fast verstummt. Spricht das Herz und ein anderes lauscht »offenen Herzens« und antwortet, dann wird Glück, jener Augenblick von Glückseligkeit erfahren: das Verbundensein in universeller Liebe.

Irgendwann im Leben, spätestens im Augenblick des Todes, erkennt der Mensch seine Vergänglichkeit. Alles, was heute bedeutsam erscheint, verweht wie kalter Atem in der kühlen Winterluft. In einem Nahtoderlebnis, in dem mein ganzes Leben an mir vorüberzog, waren es die Bilder jener Augenblicke von Liebe, von erfahrener Verbindung der Herzen, welche die ekstatische Glückseligkeit, die ich in diesem Moment empfand, begleiteten.

Schließt sich hier der Kreis des Lebens, in dem im Augenblick des Todes die Wahrheit der Liebe aufscheint, aus der alles Lebendige kommt, ja, welche das Leben an sich ist?

Mögen die Prioritäten und Werte im Leben des Einzelnen weit davon entfernt sein, geprägt von Macht, Geld, Gier, Erfolg und anderen Fetischen des Ego-Verstands, die Wirkkräfte des Lebens, die Energie der Liebe, bleiben hinter all dem lebendig, um zum Zeitpunkt des Todes in ihrer ganzen Schönheit aufzuscheinen: In ihr begegnen wir dem tiefsten menschlichen Wesen, der Wahrheit, den Triebkräften jener Sehnsucht, aus welcher der Mensch geboren wird, und in der er zurückfindet, wenn das Herz zu schlagen aufhört.

Ich habe im vorangegangenen Kapitel dargestellt, was es mit dem Herzen und mit seiner Beschämung auf sich hat, die in frühster Kindheit einsetzt. Liebeslyrik erweist sich als schamlos. Sie transzendiert die Erfahrung der Beschämung des Herzens, in dem sie der Stimme Raum gibt, sie zu ihrem Sujet erhebt.

Die Poesie der Liebe bietet all diesen Erfahrungen Raum, schenkt Bilder, Metaphern, Assoziationen, berichtet von Begegnungen im Inneren, in der Seele des Autors. Sie illustriert Dramen und Kämpfe, die aus den Konflikten zwischen Herz und Verstand resultieren. Sie gibt leisen Stimmen Raum, die sonst ungehört bleiben hinter dem Lärm dieser Welt. Sie öffnet sich, denn sie zeigt Herz.

Ein anderes Herz kann sich verbinden, in eigenen Bildern, Metaphern, Assoziationen, Eindrücken. Die Poesie der Liebe enthüllt die Seele dessen, der sie schreibt, und sie berührt diejenige des Lesers. Poesie war und ist immer ein Stück Liebespoesie, zeigt sie sich wahrhaftig, legt sie ihre »Hand auf’s Herz«. Die Historie, die Geschichte der Völker und Kulturen, ist voll von Liebesgeschichten, von Sängern und Sängerinnen, von Poeten und Poetinnen.

(Fortsetzung folgt)

Sonntag, 18. November 2018

SEINSORIENTIERTE KÖRPERTHERAPIE (250): Der Januskopf des Herzens

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Gehirn und Ego-Verstand gerieren sich gegenüber der Stimme des Herzens und der Herzens anderer distanziert bis feindselig. Spreizen sich, eitel, stolz, besessen, ja berauscht von offenen oder verborgenen Grandiositätsphantasien. Bauen ein Leben lang eine feste Burg aus Meinungen und Urteilen, die angestrengt bis fanatisch verteidigt werden.

Es scheint, als gelte es, zu allem eine Meinung zu haben, alles zu beurteilen, alles zu denken, alles erklären zu können. Und wehe, jemand ist anderer Meinung, oder, schlimmer, kritisiert die eigene. Dann gerät die scheinbar feste Burg, die ganze Persönlichkeit ins Wanken, erzeugt Abwehrmuster, einem seelischen Erdbeben gleich.

Das ist die unermessliche Freiheit des Denkens, die unsere „aufgeklärte“ Gesellschaft repräsentiert. Eine Gesellschaft mit gestorbenem Mitgefühl für die Schöpfung. Eine Gesellschaft der Gier des Egos nach Selbstinszenierung, der Gier nach Macht, der Gier nach dem Materiellen. Doch die Dinge und das Geld leben nicht, können nicht antworten. Sie sind Spielzeuge für Lebewesen, die Angst vor dem Lebendigen haben.

Tote Dinge schenken keinen Frieden, geben weder Heimat noch Halt. Sie tönen, verheißen Glücksversprechen, die niemals eingelöst werden.

Was als Erfahrung von Beschämung begann, zur Scham wurde, wird zur Quelle der Beschämung überall dort, wo sich die Stimme des Herzens artikuliert: In sich selbst, in den Kindern, den einfachen »naiven« Menschen, in den Wilden, den »Unzivilisierten«, den aus ihrem Herzen heraus lebenden Frauen und Männern aller Zeiten und Kulturen. Wir nennen sie primitiv, einfältig, Träumer, Romantiker, weltfremde Spinner, „Gutmenschen“. Im Grunde muss eine leistungsorientierte, den Ego-Verstand heiligende Kultur sie verachten. Mit heiler Haut kommen sie nur dann davon, wenn sie nur verachtet, aber nicht vernichtet werden. Das war und ist nicht immer der Fall.

Was macht sie so bedrohlich? Erinnern sie an wilde, verborgene Sehnsüchte, abgetrieben, vergraben und eingeschlossen in den Tiefen der Seele? Begegnet man ihnen feindselig, weil sie den tiefen Schmerz, das wilde Tier der metaphysischen Sehnsucht berühren oder zu neuem Leben erwecken könnten? Erinnern sie an das, was hinter der eingekerkerten Seele, neben der Leere, unter dem Schmerz auf Befreiung wartet?

Immer dann, wenn ein Herz berührt wird, werden Scham und Schmerz angesprochen. Genau darin zeigt sich der Januskopf der Liebe. Wenn Liebe lächelt, krampft sich das beschämte, das gebrochene Herz allzu bald zusammen, unternimmt alles, um den alten Schmerz nicht wieder fühlen zu müssen. Persönliche Abwehrmuster von Spaltung und Verdrängung, von Verleugnung und Projektion, formieren sich zu einer kampfbereiten Front.

Muss die Stimme des Herzens deshalb sprachlos bleiben? Welche Wege weisen die Richtung, die fast vergessene Sprache des Herzens zu neuem Leben zu erwecken?

(Fortsetzung folgt)

Sonntag, 9. September 2018

SEINSORIENTIERTE KÖRPERTHERAPIE (249): Ein Phyrrussieg ist der Sieg des Gehirns über das Herz

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Ebenso wenig lässt sich die Stimme des Herzens vollständig kontrollieren. Sie meldet sich immer dann, wenn es nicht passt. In schlaflosen Nächten, in plötzlichen Weinkrämpfen, in endlosen inneren Dialogen eines innerseelischen Bürgerkriegs. Immer dann, wenn der Ego-Verstand alles tut, die Stimme des inneren Kindes, die Stimme der Sehnsucht, die Stimme des Beschämten niederzuringen.

Die Beschämung des eigenen Herzens wird nicht nur zur Quelle innerer Kämpfe und seelischen Unfriedens, man könnte sie mit einem Großteil existentiellen Leids in unserer Kultur in Zusammenhang sehen. Einer Kultur des Gehirns, welche nur die Oberfläche, nur einen Teil des menschlichen Wesens abbildet. Nicht nur die Authentizität des Gefühlslebens bleibt auf der Strecke.

Die Bindungs- und Liebesbedürfnisse, die den Menschen von frühester Kindheit an auszeichnen, werden, quantifiziert und zum Tauschobjekt geformt, in einer Weise verzerrt, die die innere Natur langsam erstickt. Am Ende dieses Prozesses finden sich Persönlichkeitsmuster, die, gefangen in ihrem Narzissmus, das vollständige Spektrum von Neurosen, Beziehungsstörungen bis hin zu Sadismus, Mord und Totschlag abdecken.

Ein Pyrrhussieg ist der Sieg des Gehirns über das Herz, weil der Mensch Anmut, Authentizität, Selbst-Halt mehr und mehr verliert. Er versteift, erstarrt. Innen, in den Räumen seiner Seele, herrschen Wüste, Kälte, Krieg und Bürgerkrieg. Die Wüste, diese Kälte veräußert sich, der innerseelische Bürgerkrieg gebiert äußere Bürgerkriege und Kriege. Die Wüste in der Seele des Menschen erzeugt die Verwüstung von Natur und Schöpfung
.
Wer haltlos und mit sich nicht im Frieden lebt, kann mit anderen nicht im Frieden leben. Er braucht die Macht, die Gewalt, das Geld, die Halt und Sicherheit versprechen. Das wussten wir schon lange. Aber wir begreifen es nur, wenn überhaupt, im Kopf. Fühlen es nur wenig. Weinen, trauern nicht mehr beim Anblick der Zerstörungen der Natur um uns herum. Ahnen vielleicht, wie jämmerlich es ist, so mit der Schöpfung umzugehen und sich seiner eigenen Lebensgrundlagen und denen kommender Generationen zu berauben. Die moderne Zivilisation erscheint auf diesem Hintergrund nicht zivilisiert, sondern völlig suizidal und wahnsinnig. Eine einfache Wahrheit. Die Wahrheiten des Herzens sind einfache Wahrheiten.

Die Dominanz des Gehirns  über das Herz erscheint als Pyrrhussieg. Das Herz kann nicht herausgerissen werden. Solange ein Mensch lebt, wird es nicht sterben. Das Herz kann ignoriert werden. Es kann abgespalten werden. Es kann verachtet werden. Es kann verschlossen werden. Es bleibt ein Teil des Lebens.

(Fortsetzung folgt)

Sonntag, 2. September 2018

SEINSORIENTIERTE KÖRPERTHERAPIE (248): Gequälte, kranke Herzen


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Das Kind lernt, sich der Beschämung zu unterwerfen. Es identifiziert sich nach und nach mit der beschämenden Stimme des Erwachsenen. Das Kind beginnt sich zu schämen. Beginnt sich seiner selbst zu schämen. Beginnt, sich der Stimme seines Herzens zu schämen. Beginnt, den Teil in sich zu belächeln, zu verachten oder zu hassen, der die Stimme seines Herzens repräsentiert. Sein sich entwickelndes Ich, sein Verstand wird jene Instanz, die sich mit der beschämenden Lebensumwelt identifiziert, und nach und nach beginnt, ihren Job zu übernehmen.

Am Anfang sind es viele Facetten seiner Gefühle, seiner Körperlichkeit, seiner Sinnlichkeit, seiner Sehnsucht, die eng verbunden sind mit seinem Herzen. Später wird diese Verbindung längst gelöst sein, dann reichen bestimmte Empfindungen, Gefühle, Emotionen, völlig aus, um sich derer zu schämen, oder »fremdzuschämen«, um ein Modewort zu gebrauchen.

Das Ganze ist ein durchaus schmerzhafter Prozess. Ein Schmerz, der tief vergraben wird in der Seele und Körper der Menschen. Ein Kampf, der von vornherein aussichtslos ist. Das Kind kann seine organismische Wahrheit, kann sein Herz nicht retten. Blessuren sind nicht zu vermeiden, selbst in liebevollsten Familien. Das Herz und die Stimme seines Herzens müssen auf dem Altar der gehirnorientierten Realität geopfert werden, um zu überleben. Um nicht zerrissen zu werden. Das ist eine kulturelle Lektion, der sich niemand zu entziehen vermag.

Doch wo Frieden herrschte, kommt es zu einem Kriegszustand. Die Selbstbeziehung wird und bleibt geprägt durch diese tiefe Beschämung. Das Kind schämt sich seiner selbst. Es verliert. Es verliert sich. Es verliert seine Würde, seine Anmut, die Verbindung zu seinen Instinkten, seiner Intuition, die Wahrnehmung des Einsseins mit sich und der Welt. Es wird das, was von ihm erwartet wird. Das Kind nicht mehr in sich selbst zuhause. Es wird heimatlos. Seine innere Heimat ist verloren. Damit der Schlüssel zur Wahrheit seiner Existenz. Seine Augen verlieren ihr Strahlen, seine Bewegungen ihren Fluss, der heranwachsende Mensch wird steif, verspannt, rigide und heimatlos in seiner eigenen Seele und im eigenen Körper.

Der Ego-Verstand, gar nicht mehr so nüchtern in seiner johlenden Überheblichkeit, glaubt, auf der ganzen Linie gesiegt zu haben. Ein Phyrrussieg. Denn das abgeschnittene Herz ist nicht tot. Es schlägt weiter, damit der Körper leben kann. Damit das Gehirn existieren kann. Und dies Herz, das schlägt, macht allein dadurch Angst, dass es schlägt. Es ist unheimlich. Der Schrecken des lebendigen Herzens! Herzangst.

Das lebendige Herz ist nicht ein Zeichen der Stärke, der Vitalität, der innewohnenden Potentiale der Persönlichkeit. Es ist nicht das heilige Organ der Liebe. Es ist nicht das Göttliche im tiefsten Grund der Seele, das immerwährende Ziel aller Sehnsüchte von Heimat, Gott, Glück, Selbsterkenntnis und Erleuchtung. Nein, nein, nein! Es ist, indem es dem Gehirn das ist, was es ist: ein spezieller Muskel für die Blutversorgung, beängstigend und bedrohlich. Herzangst wird Lebensangst. Herzangst wird Liebesangst. Herzangst wird Orgasmusangst. Abgetriebene Sehnsucht. Kontrolliert mit EKGs, Blutdruckmessgeräten, misstrauischen Griffen zum Puls, Pulsmessern rund um die Uhr.

Doch die Herzen in unserer Kultur tanzen als Organe aus der Reihe. Lassen sich nicht kontrollieren. Sind so nicht in den Griff zu bekommen. Die meisten Menschen im Westen sterben an Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Der Herzinfarkt hängt wie ein Damoklesschwert über den hirnstolzen, dauergestressten Häuptern. Gequälte, kranke Herzen.

(Fortsetzung folgt)


Sonntag, 26. August 2018

SEINSORIENTIERTE KÖRPERTHERAPIE (247): Das authentische und das künstliche Herz

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Die kulturelle Realität sieht so aus: Die Welt, in der ein Kind geboren wird, wird diese Sehnsucht, dieses Herz beschämen, immer wieder und überall. Wird das So-sein des Kindes beschämen. Ein Kind wird lernen, sich der Stimme seines Herzens, seines So-seins, zu schämen. Bald empfindet es Scham darüber, ein wildes, ein sehnsüchtiges, ein nach Verbindung und Bindung strebendes Herz in sich zu fühlen.

Es lernt, dieses authentische Herz zu verbergen, vergraben, entwickelt ein gekünsteltes Herz (»Kunstherz«), um das echte Herz vor weiteren Verletzungen schützen. Die alte ist zu tief. Das beschämte Kind wird eine Persönlichkeitsstruktur entwickeln, die nur ein einziges Ziel hat: sein Herz zu schützen. Und so ein falsches, narzisstisches Selbst ausbilden, dem wir auf Schritt und Tritt begegnen.

Unsere ganze Kultur ist eine einzige gigantische »Supermaschine« des Narzissmus. Dort, wo das Herz erstickt wurde, bleibt nur Leere. Die »Supermaschine« ist ein grandioses Räderwerk, das einzig und allein dazu dient, die Leere nicht zu fühlen.
Die Menschen unserer Kultur sind fanatisch damit befasst, irgendetwas zu tun, mit irgendetwas beschäftigt zu sein, zu »machen«, aber nicht zu »sein«. Sie lechzen nach Spiegelung und Bewunderung durch andere, richten ihr Leben darauf aus. Spiegelung und Bewunderung durch andere repräsentieren jene kompatible Form von Liebe, zu der ein gepanzertes Herz, ein gekünsteltes Herz, in der Lage ist. Denn am liebsten lässt es lieben, ohne selbst Liebe zu schenken.

Die permanente »Action« lenkt ab von der Stille, in der die innere Leere aufscheinen könnte. Oder, soweit es noch atmet, das authentische Herz mit seiner peinlichen Sehnsucht nach Verbindung und Bindung. Gefühle des Herzens sind gefährlich, denn sie könnten Wahrheit zu Tage bringen.

Spätestens in Pubertät und Adoleszenz hat der Mensch gelernt, die Herzen anderer mitleidlos zu brechen. Es hilft dabei, all diesen Gefühlsdusel mithilfe des Ego-Verstands mundtot zu machen, ihn zu kontrollieren, den Schmerz des eigenen gebrochenen Herzens nicht zu fühlen.

Gepanzerte Herzen, Kunstherzen, Schamherzen reagieren wie Pawlowsche Hunde und reproduzieren sich ständig. Ja, so funktionieren Menschen. Beschämen sich, andere, und schützen ihr eigenes Herz zu Tode. Sie lieben herzlos, pornographisch. Ich meine dies nicht moralisch, sondern als Phänomen einer Spaltung zwischen Herz und Genitalien.

Das, was so von Kindesbeinen an beschämt wird, ist die authentische Stimme des Herzens. Hand auf’s Herz. Dort, wo sie »reinen Herzens« spricht. Sie wird belächelt, beschämt, gedemütigt, manipuliert, verachtet oder sogar gehasst. Denn der Erwachsene spricht meist losgelöst von der Stimme seines eigenen Herzens, vertraut nicht ihr, sondern seinem Verstand, hat sie tief in sich verschlossen und den Schlüssel fortgeworfen.

(Fortsetzung folgt)

Sonntag, 19. August 2018

SEINSORIENTIERTE KÖRPERTHERAPIE (246): Die Vetreibung aus dem Paradies

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Denn die Geschichte geht ja weiter: „Die Schläge meines Vaters haben mir nie geschadet. Im Gegenteil“. Haben sie. Nur irgendwann spürt das geschlagene, gedemütigte, missbrauchte Kind nicht mehr den Schmerz, weil es abgestumpft ist.

Hat der erwachsene Mensch sich nicht längst sich für die Waffen und die Domestizierung seiner Herzgefühle entschieden? Hat sich arrangiert mit der kalten herzlosen Welt, in der Geld und Macht alles sind, weil sie das Herz am besten schützen? Und jetzt ist er bei seiner eigenen Tochter, seinem eigenen Sohn wieder mit genau diesen Herzgefühlen konfrontiert! Was nun?

Nahezu jeder Erwachsene in unserer Kultur hat eines lernen müssen: Die Stimme des Herzens ist peinlich, lächerlich, kindisch, belanglos, sie läuft der Wirklichkeit zuwider, sie ist lästig, völlig unwichtig, überflüssig wie die 20. Talkshow mit Leuten, die man schon 20 mal hat reden hören. Zwar ist sie manchmal irgendwie gegenwärtig, und dass sie das ist, lässt sich auch irgendwie nicht vermeiden. Verliebtheit kann ein nettes Spiel oder auch zur Droge werden, aber erwünscht, willkommen, geliebt gar ist die Stimme des Herzens nicht.

Dieses Wesen des Kindes, das aus seinem Herzen heraus lebt, ist, offen gesagt, eine Schande. Das Kind soll anders sein, als es ist. Als es wahrhaftig ist. Es muss anders werden. Brav. Angepasst. Vernünftig. Seine Gefühle müssen domestiziert werden, insbesondere die schmelzenden Gefühle des Herzens.

Es sollte sich schämen, so zu sein. So überschwänglich, so ehrlich, so naiv in seiner Liebe und seinen Gefühlen. Denn das Leben ist doch ganz anders. Die Menschen sind doch ganz anders. Das Leben ist hart und brutal, das Kind weich, viel zu weich. Diese elende Schwäche, wenn und wie es sein Herz zeigt! Lächerlich. Es ist eine Schande, solche Gefühle zu empfinden, es ist eine Schande, so zu sein, wie es ist! Es ist lächerlich. Hahaha. Und dieser offene, unverhohlene Blick, ist er nicht lächerlich, kindisch, treudoof, hündisch? Wenn mein Hund so guckt, okay, er ist ein Hund und kann nicht anders. Aber mein Kind? Peinlich.

So erfährt das Kind die Scham, seine emotionale Nacktheit in dieser Welt. Die Scham wird zur Vertreibung aus dem Paradies der Unmittelbarkeit, der authentischen gefühlsmäßigen Wahrheit in sich selbst. Der Mensch lernt die Zensur des Gehirns, identifiziert sich mit dem Verstand, lebt aus ihm heraus, versucht, seine Gefühle zu kontrollieren. Gefühle und Verstand finden sich wieder in einem endlosen Konflikt, ich nenne ihn den »innerseelischen Bürgerkrieg«.

Die Vertreibung aus dem Paradies: War das, was er zu verbergen lernte, nicht in erster Linie sein Genital, sondern vielmehr sein Herz? Führt uns die Schöpfungsgeschichte in die Irre? Erwuchs die Scham nicht nur aus der körperlichen, sondern aus der seelischen Nacktheit? War der Sündenfall nicht vielmehr die Abspaltung des liebenden Herzens und seiner Beschämung?

Die Vertreibung aus dem Paradies gestaltet sich zur Abtreibung des Herzens. Die Vertreibung aus dem Paradies entlarvt sich als tief empfundene Scham darüber, ein über alle Maßen liebendes, ein überschwängliches, ein aus innerem Frieden und Glückseligkeit heraus schlagendes Herz in sich zu fühlen. Diese Sehnsucht, ist das, was Wilhelm Reich „kosmische Sehnsucht“ nannte, andere als „spirituelle Sehnsucht“ oder Sehnsucht nach Verschmelzungserfahrungen jedweder Art wahrnehmen. Das Bedürfnis nach Verbindung des Herzens repräsentiert die menschliche Natur in ihrer Tiefe und den Kern jedes noch rudimentär sichtbaren Sozialverhaltens.

(Fortsetzung folgt)

Sonntag, 29. Juli 2018

SEINSORIENTIERTE KÖRPERTHERAPIE (245): Das Herz eines Kindes

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So, wie das Kind in seiner Natur und in seinem Herzen empfindet, könnte es manchmal vor schierer Freude, vor purem Glück zerspringen. Seine „unanstößliche Übertragung“ (Freud) auf die Menschen, sein grenzenloses Lieben, seine Güte, sein Urvertrauen ist ungetrübt, wie sein Wunsch sich mit alles Lebewesen herzlich zu verbinden, wird es gelassen. Erhält das Kind die Chance, seiner inneren Natur zu folgen, sie zu entfalten (ich spreche hier also nicht von ungewollten oder früh traumatisierten Kindern, bei denen dieser Impuls bereits verzerrt ist), ist es eins.

Das Herz des Kindes schlägt dann und zuerst aus dem tief empfunden Einklang mit sich selbst und mit der unmittelbaren Lebensumwelt, Gebärmutter, Mutter, Familie. Es ist sein Herz, das es leitet, das sich zeigt, das sich verbinden will. Es ist sein Herz, das Bindung sucht: mit der Mutter, dem Vater, den anderen Kindern und Lebewesen um es herum. Bindung ist das tiefe biologische Bedürfnis, sich mit einem anderen Herzen wieder und wieder in Einklang zu fühlen.

Jene glücklichen Momente des Eins-Seins mit einem anderen Menschen erweisen sich in dieser Weise als ein tiefes biologisches Bedürfnis, das der Mensch als „Tiefe“, als unmittelbaren Kontakt, als „Glückseligkeit“ wahrnimmt, die für einen Augenblick präsent sind, aber auch wieder vergehen. Die Kontinuität solcher Erfahrungen, besser, die Fähigkeit, solche Erfahrungen immer wieder herzustellen, ist das, was eine gute Bindung ausmacht. Goethe sagte zu diesem Augenblick „verweile doch, du bist so schön!“, Ernst Bloch sprach vom „Dunkel des gelebten Augenblicks“ und Immanuel Kant vom „Ding an sich“, welche eher die rationale Schattenseite dieser Erfahrung andeutet.

Der Augenblick verweilt nicht, er vergeht, wir können ihn nicht mit dem Verstand, sondern nur mit dem Herzen erfassen, aber daraus erwächst das Bedürfnis der Liebe, solche Augenblick mit einem anderen Menschen neuerlich zu erfahren, zu lieben, was allerdings die eigentliche Schwierigkeit ist, wie wir sehen werden.

Nur so viel an dieser Stelle: In meinen Gedichten spielen Begriffe wie „Augenblick“, „Herz“, „Licht“, „Sonne“ usw. deshalb eine so große Rolle, weil solche Erfahrungen einer Herzverbindung wahrhaftig erhellende Erfahrungen des Augenblicks repräsentieren. Doch kommen wir zurück zur Herzerfahrung des Kindes, die im Kern im Menschen angelegt sind:
 
Das Herz eines Kindes kann so überschäumen vor Liebe, vor Liebeslust, dass der Erwachsene in seiner harschen, unerbittlichen Welt des Kampfes und der Waffen heftig erschrickt. Der Erwachsene hat schließlich sein inneres Kind mit genau diesen Gefühlen in sich abgetrieben, es geopfert. Er ist genau das geworden, was er ist: Ein einsamer Wanderer auf rastloser Suche. Er sucht sich selbst. Doch er sucht genau dort, wo es keine Chance gibt, sich zu finden, er sucht im Außen, in seinen Beziehungen, im anderen, doch nicht in sich selbst.

Was bleibt dem Kind? Wenn es keine oder wenig Resonanz fühlt bei den eigenen Eltern? Das Kind sucht neue Objekte für seine Sehnsucht. Oft sind es Tiere, oft lieben deshalb Kinder – und manchmal auch Erwachsene – Tiere, vielleicht, weil diese Liebe, diese Herz(ver)bindung ungefährlicher, weniger existentiell bedrohlich ist. Weil Tiere keine Herzen brechen.

(Fortsetzung folgt)


Sonntag, 22. Juli 2018

SEINSORIENTIERTE KÖRPERTHERAPIE (244): Die Poesie der Liebe und mein Weg dorthin


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Doch wie weit entfernt ich mich von dieser seelischen Wirklichkeit in Wahrheit befand, zeigte jenes Erschrecken, das ich empfand angesichts mancher aufwühlender Eindrücke, die Rumis Poesie auslöste. Mein narzisstisches Ego erteilte mir die Lektion darüber, wie es funktioniert. Denn in meinen (un)heimlichen Gedanken hatte nichts Besseres zu tun, als mich auf der Ebene des »Kollegen« flugs mit Rumi zu messen und zu vergleichen. Abgesehen von der Vermessenheit und Grandiosität, die sich hier abbildet, erweist sich das Kategorisieren und Bewerten als probates Mittel, mein tiefes Berührtsein, die Aufgewühltheit, die Erregung schlechthin im ruhigen Hafen des Ego-Verstands zu ankern.
 
Ja, ich schrieb nicht nur selbst Gedichte, sondern als favorisiertes Sujet galten mir Liebesgedichte. Der Gegenpol der Grandiosität, man könnte auch sagen, der Realitätsgewinn, äußerte sich bald in einem niederschmetternden Urteil: »Du wirst nie so schreiben können wie Rumi, da kannst du alles in die Tonne treten, was du je geschrieben hast oder schreiben wirst«. Dass auch in diesem Reaktionsmuster die Freude und Lust auf der Strecke blieb, ist klar. Urteile und Analysen jeder Art dienen stets dazu, den unmittelbaren, sinnlichen, lustvollen, erfüllenden Kontakt zu unterbrechen, zu kontrollieren, die Liebe, die sich mit wem oder was auch immer verbindet, heim ins Reich der Gedankenselbstkontrolle zu holen. Wo das Herz sich verbindet, trennt der Verstand.

Ich nahm nicht nur Grandiosität und Selbstabwertung wahr, die im Vergleichen mit Rumi deutlich wurde, sondern auch die vielschichtige Scham, die sich dahinter verbarg.

Die Scham betraf zunächst die vielen gescheiterten Versuche zu lieben. Es betraf meine Liebesbeziehungen, die mit einem Strohfeuer begannen, sich mit Illusionen und Machtspielen entwickelten, und die am Ende in Enttäuschungen und Schmerz endeten. Legitimiert eine solche Vor-Geschichte, über Liebe zu schreiben?

Ja, es legitimiert. Allein deshalb, weil der Ego-Verstand stets nach dem Vollkommenen strebt. Das ist wohl seine spezielle Art der Gottsuche. Das Zarte und das Leise, das Unschuldig-Naive und das Unvollkommene, das der Wahrheit-ins-Auge-Sehen des Herzens sind nicht seine Sache.

Die Scham betraf zudem sich jenen intimen Wahrheiten des Herzens in einer Weise zu öffnen, die über den Rahmen der persönlichen Beziehung hinaus wiesen. Wie exhibitionistisch mochte es sein, Intimitäten des Herzens einem Leserkreis zu offerieren, der anonym blieb? Ich erschrak, als ich in mir selbst wahrnahm, dass ich die Gefühle des Herzens als persönlicher und schamhafter empfand als jede Art erotischer oder sexueller Empfindungen. Sollte das auch bei anderen Menschen so sein?

Diese inneren Dialoge und Selbstbeobachtungen mündeten in dem Schritt, meine Liebesgedichte, die jahrzehntelang eine verborgene Existenz in den Schubladen meines Schreibtisches führten, öffentlich zu machen. Ich gründete 2010 das Blog »eintagsliebe«, das bis heute im Internet zu finden ist und einige Hundert Liebesgedichte aus meiner Feder der Öffentlichkeit zugänglich macht.

Ich möchte versuchen, die Hintergründe zu skizzieren (man möge mir nachsehen, dass hier manches nur rudimentär, angedeutet, fragmentarisch erscheint), weshalb ich Liebeslyrik schreibe und veröffentliche. Dabei geht es weniger um die Lyrik als solche, sondern mehr um die Hintergründe, die den Boden bilden, auf dem meine „lyrischen Blüten“ wachsen. Lassen Sie sich also entführen in jene Seelenlandschaften, in denen das Lied, die Lyrik nur das Echo einer Seele repräsentiert. Einer Seele, die sich verbindet mit sich selbst, mit der Schöpfung, mit den Herzen des oder der Anderen.

(Fortsetzung folgt)

Montag, 9. Juli 2018

SEINSORIENTIERTE KÖRPERTHERAPIE (243): Die Melodie der grenzenlosen und formlosen Liebe

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So leben Tiefe und Weisheit dieser Poesie aus längst vergangenen Tagen bis heute. Kabirs und Rumis Lyrik wirken zeitlos. Sie geben Zeugenschaft über die ureigensten Themen der Seele: Spiritualität und Liebe. Sie widmen sich ihnen auf der Ebene der direkten, ekstatischen, grenzenlosen Gotteserfahrung. Nicht fein ziselierte Wortspielereien oder intellektuelle Architekturen aus Metaphern, Rhythmen und Reimen bilden die Anziehung, die ihre Poesie ausübt, sondern die Versprachlichung menschlichen Seelenlebens in seiner spirituellen Tiefe.

Nicht die die Form, die Wahl der Worte, sondern die Inhalte selbst sind es, welche die Faszination dieser Poesie ausmachen. Sie erreichen uns aus der Tiefe der menschlichen Seele, und berühren sie, bringen sie und ihre Wahrheit zum Klingen. Die Liebe, die Rumi besingt, ist nicht die personale, sondern die transpersonale, nicht die bedingte, sondern die bedingungslose, allumfassende, göttliche Liebe:

Neunte Ghasele
Tritt an zum Tanz! Wir schweben
In dem Reihn der Liebe,
Wir schweben in der Lust
Und in der Pein der Liebe.
Der ew’gen liebe Botschaft
Hört‹ ich von dem Tode,
Dass Gott den Tod getränkt
Im Lebenswein der Liebe.
Die Kraft der Liebe löste
Leise mir den Nabel,
Als Mutter Liebe mich
Gebar ins Sein der Liebe.
Ich frug die Liebe: Wie
Soll ich der Lieb‹ entgehen?
Sie sprach: Ohn‹ Ausgang ist
Der Zauberhain der Liebe.
Der liebe Zauberspiegel
Strahlet Weltgestalten,

Der Blick verirrt sich
In den Schilderein der Liebe.
Gib deinen Leib wie Gold
In Liebe’s Läutrungsschmerzen;
Denn Schlack‹ ist Gold, das nicht
Die Glut macht rein der Liebe.
Ich sage dir, warum
Das Weltmeer schlägt die Wogen:
Es tanzt im Glanze
Vom Weltedelstein der Liebe.
Ich sage dir, wie aus dem Ton
Der Mensch geformt ist:

Weil Gott dem Tone blies
Den Odem ein der Liebe.
Ich sage dir, warum
Die Himmel immer kreisen:
Weil Gottes Thron sie füllt
Mit Wiederschein der Liebe.
Ich sage dir, warum
Die Morgenwinde blasen:
Frisch aufzublättern stets
Den Rosenhain der Liebe.
Ich sage dir, warum
Die Nacht den Schleier umhängt.
Die Welt zu einem Brautzelt
Einzuweih‹n der Liebe.
Ich kann die Rätsel alle
Dir der Schöpfung sagen,

Denn aller Rätsel Lösungswort
ist mein, der Liebe.

Rumis Poesie weist auf jenen erleuchteten Zustand, in welcher ein Mensch in vollendetem Kontakt mit der Essenz des Seins steht.

Die Form tritt zurück hinter das Orchester der Worte. Ein Orchester, das eine Musik erklingen lässt, welche als »Musik Gottes« oder »Gesang der Engel« ertönt. Musik, die in den Tiefen der menschlichen Seele immer existierte und existiert, die nun ohrenfällig wird. Es ist, also ob Kabir oder Rumi nur den Lautstärkeregler aufdrehen, und schon hören wir eine Melodie in uns anklingen, die dort schon immer war: die Melodie der grenzenlosen und formlosen Liebe.

(Fortsetzung folgt)

Sonntag, 3. Juni 2018

SEINSORIENTIERTE KÖRPERTHERAPIE (242): Die Poesie der Mystik

Rumi (1207–1273)
Der Name »Kabir«, den mir mein Lehrer spiritueller Lehrer Alakhananda Al Qahhar gab, verweist auf den Mystiker Kabir, der im 14. Jahrhundert in Indien lebte und lehrte. Sympathisch mutete an, dass er mehrere religiöse Traditionen in sich vereinte, besser, sich als Vertreter einer einzigen, allumfassenden Spiritualität verstand.

Kabir wuchs in einer Moslemfamilie auf. In seiner Jugend wurde er Schüler des bekannten hinduistischen Asketen Ramananda, einem Vorreiter der mystischen Erneuerung gegen die intellektualisierte Lesart der damals vorherherrschenden vedischen Philosophie. Später entdeckte Kabir die berühmten persischen Mystiker des Sufismus wie Rumi und Hafiz und  beschäftigte sich auch mit jüdischen und christlichen Quellen.

Kabir war Dichter. Im Ozean seiner Poesie vereinigten sich all diese Einflüsse. Es verwundert nicht, dass nach Kabis Tod 1518 Angehörige verschiedener Religionen ihn zu dem Ihren erklären wollten. Der Legende zufolge stritten sich Hindus, Moslems und Sufis bereits bei der Beerdigung um seine Vereinnahmung. Kabir gilt heute als einer einflussreichsten Dichter Indiens und als bedeutender Mystiker, dessen Wirkung bis heute anhält.

Das folgende, nach wie vor aktuelle Gedicht, gibt einen Einblick in die Lehre Kabirs:

Ich bin an deiner Seite
Wo nur suchst du mich?
Schau hin! Ich bin an deiner Seite.
Ich bin nicht im Tempel,
nicht in der Moschee.
Ich bin nicht in der Kaaba
und nicht am Kailash.
Ich bin nicht in Riten und Zeremonien,
nicht in Yoga und Entsagung.
Wenn du ein wirklicher Sucher bist,
dann erblickst du mich in diesem Augenblick –
du begegnest mir in diesem Moment.
Kabir sagt:
›Gott ist der Atem allen Atems‹

Einem anderen Mystiker und Dichter, dem Perser Rumi, erwähnte ich bereits in Zusammenhang mit Al Baumann und Wilhelm Reich, die diese Poesie gemeinsam vertonten. Obwohl ich mich seit meiner Jugend als Freund der Poesie verstand und selbst Gedichte schrieb, war mir Rumi bis zu diesem Zeitpunkt nicht bekannt. Meine Bewunderung für alles, was mit Reich zusammen hing, motivierte mich bereits damals, die Poesie Rumis kennenzulernen.

Ich fühlte mich fasziniert, ja überwältigt von der Schönheit und Weisheit in Rumis Versen. Die Klarheit der Worte ermöglichte einen visionären Blick in die Tiefsee der menschlichen Seele, in jene Welten, wo die Liebe im Dunklen wohnt. In meinem Herzen entfaltete sich eine Blüte langsam, scheu, vorsichtig, und in ihr erwachte gleichzeitig eine Sehnsucht, die viel weiter ging, allumfassend wachsen wollte, mich zog und dehnte bis ins Universum. Eine Ausdehnung aller Sinne, eine essentielle Wirklichkeit, erzeugt durch ein paar einfache Worte eines Mystikers und Poeten.

Die Anziehung, die Rumi ausübt, scheint, nicht nur für mich, bis heute ungebrochen. Dieser Mystiker, glückselig und trunken vor Liebe, berührt bis zum heutigen Tage zahllose Menschen, die seinen Worten begegnen. Wie können einfache Worte eine solche Wirkung ausüben? Weil sie eine tiefe Wahrheit in uns berühren und zum Klingen bringt, die, unabhängig von Zeit und Kultur, unser Menschsein ausmacht: die Wahrheit über die Natur der Liebe.

(Fortsetzung)

Sonntag, 27. Mai 2018

SEINSORIENTIERTE KÖRPERTHERAPIIE (241): Der Weg nach innen


Das, was sich in dieser Weise im Einzelnen verankert, spiegelt sich vollständig auf der gesellschaftlichen Ebene und umgekehrt. Die Dominanz des analytischen Verstands in der Beziehung zu Natur und Schöpfung forcierte die globale Unterwerfung und Ausbeutung derselben unter die Herrschaft der Profitmaximierung um jeden Preis. Heute stehen wir vor einer Situation, in der nur noch die populistische Verleugnung und Verdrängung der Realität darüber hinwegtäuschen, dass die Katastrophe längst eingetreten ist: Klimawandel globalen Ausmaßes, radioaktive und chemische Verseuchung, Verschmutzung der Natur mit Mikroplastik, endemisches Artensterben, Überfischung usw., diese Liste ließe sich seitenweise fortsetzen.

Ein globaler Bewusstseinswandel steht auf der Agenda dieser Entwicklungen. Wann er kommen wird, ist sekundär, spätestens dann, wenn die Ressourcen des Planeten und damit die Objekte der Gier erschöpft sind, werden sich die Wahrnehmungen zwangsläufig nach innen, also auf die inneren Ressourcen richten. Damit deutet sich die Chance einer Selbstheilung der Spezies Mensch an. Ein Weg zur Selbstheilung ist vorgezeichnet und hat seine Spuren in der menschlichen Geschichte hinterlassen, verachtet, bekämpft, verfolgt. Es ist der Weg der Mystiker.

Gotteserfahrungen im Herzen, statt Antworten in den Konstrukten des Ego-Verstands zu suchen, beschreibt diesen Weg. Er bedarf keiner Kirche oder Moschee, keiner Liturgie oder Kommunion. Der Mystiker macht sich auf die Reise, Wahrheit, Glückseligkeit, Verzückung und die allumfassende Liebe in sich selbst zu finden. Er taucht ein in die Tiefen der Seele, dorthin, wo das Individuelle, das Einzigartige, das Besondere jedes Menschen mündet: im Grund des überpersönlichen Selbst, des Transpersonalen im menschlichen Herzen.

Unmittelbare Gotteserfahrung und Gottsuche im eigenen Selbst charakterisieren diesen Weg. Der Mystiker erlebt und zelebriert die Verbindung zu Gott im Herzen, in der Seele, in der Ekstase des Lebens, im Diesseits.

Im Gegensatz dazu inszeniert sich die von der Kirche repräsentierte Religion. Sie zeigt nach Außen, weit fort von der eigenen Seele. Sie verweist auf den Allmächtigen und seine Allmacht. Sie verweist auf die (Er)Lösung im Jenseits. Sie ist eine Konstruktion, in der Verstand und Gehirn den Ton angeben. Theologie und Theologen repräsentieren nicht nur die Exegese einer Beziehung zum Göttlichen mithilfe der Wortklauberei, sie definieren auch die Grenze zwischen Glaubenslehre und Häresie. Historische Hexenverbrennungen und die Hinrichtungen Andersgläübiger durch Fanatiker jedweder Couleur folgen der gleichen Logik: der des irrationalen und herzlosen Ego-Verstands.

(Fortsetzung folgt)

Sonntag, 20. Mai 2018

SEINSORIENTIERTE KÖRPERTHERAPIE (240): Mystiker und Kind

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Die modernen psychologischen Wissenschaften, die die seelische Entwicklung des Menschen betrachten, allen voran Bindungs- und Säuglingsforschung, haben Bindung und soziale Kompetenz als ein psychologisches Phänomen beschrieben. Interaktionen und Objektbeziehungen, also die Beziehungen zu anderen Menschen im familiären und sozialen Lebensraum gilt dabei besondere Aufmerksamkeit. Das frühkindliche Bindungs- und Kontaktverhalten betrachtet man entsprechend als Gestalt, Formung und Ausdruck der psychologischen Seele.

Die spirituelle Seele des Menschen hingegen wird in diesem Menschenbild nicht erfasst. Was aber wäre, wenn der »kompetente Säugling« nicht nur als natürliches soziales Wesen, das in Beziehung mit seiner menschlichen Lebensumwelt tritt, verstanden würde, sondern auch als spirituelle Seele, die Verbindung und Bindung zum Herzen des anderen Menschen sucht? Was, wenn diese noch ungebrochene Zuwendung, dieses Ringen um Kontakt und Verbindung, nichts anderes darstellte, als ein Ausdruck von Liebe und dem transpersonalen Herzcode? Die Frage: »Warum liebt ein Kind seine Eltern?« wurde bereits erörtert.

Was, wenn hinter den entwicklungspsychologischen Kategorisierungen frühester Kindheit wie »symbiotische Phase« (Margret Mahler), »regressive Wiederverschmelzung« (Otto Kernberg) oder »Gemeinsamkeitserlebenisse von Mutter und Kind« (Daniel Stern) nichts anderes als die natürliche Spiritualität des Kindes steckt, dessen Herz sich uneingeschränkt in Liebe zu seiner Lebensumwelt zu verbinden sucht? Das klingt zwar weniger wissenschaftlich und distanziert, öffnet aber einen anderen Blick auf das Kind und die spirituelle Essenz im Menschen.

Das Verbundensein mit der Natur, mit der Schöpfung, mit der Menschheit im Allgemeinen charakterisiert jene spirituellen Erfahrungen, die geschildert werden in Zusammenhang mit Erleuchtungserlebnissen von Mystikern und anderen spirituellen Persönlichkeiten. Es findet sich ebenso in zahllosen ethnologischen Beschreibungen indigener Völker von Margaret Mead über Bronislaw Malinowski bis hin zu Jean Leadloff.

Daraus ergibt sich die Frage, ob dieses Verbundensein mit Natur und Schöpfung einen Naturzustand von Kindheit beschreibt, die beiden Dimensionen der menschlichen Seele Raum gibt, der psychologischen und der spirituellen Seele? Es bleibt spekulativ, ob wir nicht von unserem unverfälschten natürlichen Wesen auch einen Zustand glückseliger Verbindung und allumfassender Liebe in uns tragen. Dies bezieht sich insbesondere auf die pränatale Entwicklung und vorsprachlichen Abschnitte des 1. Lebensjahres.

Eines hingegen ist gewiss: Das »göttliche Kind« Hölderlins, das Göttliche im Kind, das »reine Herz« finden wenig Resonanz in dieser lärmenden, übererregten und gehirndominierten Kultur. So taucht es ab in die Tiefsee der Seele, ins Dunkel. Sukzessive übernimmt das Ego mit seinen Programmierungen die Herrschaft: Der verinnerlichte Blick der Anderen, die Gier nach Spiegelung im Außen, die Sucht, alles zu kategorisieren und zu beurteilen, die Kontaktlosigkeit, der Hochmut, die Eitelkeit. Körper und Seele salutieren im Erwachsenenego, brave Soldaten, eher bereit, den physischen statt den psychischen Tod zu sterben. Dieses Training startet früh, wie meine Ausführungen in den Folgebänden zeigen werden. Aber das »reine Herz«, das »göttliche Kind« überlebt und wartet auf Befreiung, ein Leben lang.

(Fortsetzung folgt)

Donnerstag, 10. Mai 2018

SEINSORIENTIERTE KÖRPERTHERAPIE (239): Im Kind findet sich die Essenz des Menschseins

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Es zeichnet das Ego aus, dass es in vorauseilenden Gedanken Befreiung sucht. Ist jedoch die Seele nicht frei, das Herz nicht rein, dann führt und verführt dies die Menschen zu jeder Art »kirchlicher Sozialbauten«, welche die Energie der Liebe einsperren und in ihr Gegenteil verkehren.

Eine besondere Brisanz findet sich dort, wo die Identifizierung eines geistigen Führers mit Allmachts-Übertragungen seiner Anhänger verschmilzt. Die narzisstische Selbstaufwertung spiegelt sich zunächst in der Überhöhung des jeweiligen Gurus. Je großartiger er phantasiert wird, umso glanzvoller stabilisiert sich das (wackelige) Selbstbild der Anhänger.

Es entsteht eine fatale Kollusion. Der Jünger delegiert seine Selbstressourcen an den geistigen Führer, idealisiert diesen umso maßloser, je ausgeprägter die eigenen regressiven Anteile, je abhängiger und bedürftiger sie sich erweisen. Der geistige Führer wird in zunehmendem Maße der Verführung ausgesetzt, eigene narzisstische Schattenanteile und Grandiositätsphantasien durch die grenzenlosen idealisierenden Übertragungen als Beweis eigener Quasi-Göttlichkeit zu missdeuten.

Wenn dies zutrifft, was mag es dann mit dem Phänomen der »Erleuchtung« des geistigen Führers auf sich haben? Zeigt er sich frei von narzisstischen Schattenanteilen, wenn er erleuchtet ist?

Ich befürchte, solche Ideal-Vorstellungen existieren nur in den Phantasien der Jünger und stehen für narzisstische Übertragungsmuster. Sie repräsentieren das fatale Bedürfnis, eben nicht den Weg des Mystikers zu beschreiten, der sich aufmacht, Gott in sich selbst zu finden. Sondern sie verweisen auf den bequemeren Weg, Gott und das Göttliche im Außen, hier: in einem anderen Menschen, im geistigen Führer, zu suchen.

Es gibt keinen perfekten Menschen. Vollkommenheit ist eine Kategorie des Ego-Verstands, der sie nach außen projiziert. Ja, das Göttliche, die göttliche Liebe mag existieren, als Teil des Selbst, verschüttet in der Tiefe jeder Seele.

"Ja! Ein göttlich Wesen ist das Kind, solange es nicht in die Chamäleonsfarbe der Menschen getaucht ist." (Hölderlin)

Es ist das göttliche Kind und das Göttliche im Kind, das ungelebt bleibt. Kein Kind ist nur göttlich, wie Reichs »Christusmythos« oder das Zitat von Hölderlin suggerieren. Die Chamäleonsqualität, die Anpassung an die Lebensumwelt, beginnt bereits im Mutterleib. Dennoch, im Kind findet sich die Essenz des Menschseins, bereit, zur Liebe zu erwachen. In jedem Fötus, in jedem Neugeborenen, in jedem Kind findet sich die Seele nicht nur als eine psychologische, sondern auch als eine spirituelle Wesenheit.

(Fortsetzung folgt)

Dienstag, 1. Mai 2018

SEINSORIENTIERTE KÖRPERTHERAPIE (238): Wege der Gottsuche


Allmählich klärte sich das Bild: Westliche Psychologie und Psychotherapie zeigen sich weitgehend blind für die Wirkungs- und Funktionsweise des narzisstischen Egos. Die spirituellen Traditionen, damit vertraut, zeigen sich hingegen häufig blind gegenüber der Macht von Übertragungen.

Im Laufe der Zeit durchschaute ich, dass Ego-Programme erlernte Verhaltensmuster darstellen, die verhindern, im Kontakt mit der Liebe zu sein, die in der Tiefe des Selbst verschüttet ist. Es gibt einen treffenden Begriff für einen solchen Kontakt nach innen: »reinen Herzens sein.«

Ein Herz wird unrein, wenn es sich den Konventionen und Erwartungen seiner Umwelt unterwirft und seine authentische Wahrheit zu verschweigen und zu verleugnen lernt. Bei Kindern lässt sich dieser Prozess leicht beobachten, wenn sie unbedarfte Wahrheiten aussprechen, die dem jeweiligen Elternteil die Schamesröte ins Gesicht treiben. »So etwas sagt man doch nicht ...« Oder »Das ist unhöflich«. Was eigentlich? Die Wahrheit auszusprechen? Authentischen, reinen Herzens zu sein? Aus der Tiefsee der Seele zu sprechen?

Die Wahrheit zeigt: Ein »unreines« Herz verweist auf eine Verbindung mit dem narzisstischen Ego ein, es wird berechnend, kalt, neidisch, zornig, schmerz- oder hasserfüllt. Es verliert die Fähigkeit, zu lieben. Die Märchenerzählung »Das kalte Herz« von Wilhelm Hauff, 1950 von Paul Verhoeven verfilmt, beschreibt eindrucksvoll diesen Prozess.(*FN*  Inhalt des Märchens siehe: www.maerchenatlas.de/kunstmarchen/das-kalte-herz*FN*)

Entfremdet von seinem Wesen strauchelt es auf der opaken Oberfläche: Liebe, wie sie kulturell erfahren wird, zeigt sich an Bedingungen geknüpft, heftet sich an Erwartungen und Urteile. Eine solche Liebe erscheint als Tauschgegenstand, als Ware oder als Geschäft. Sie schachert um Bestätigung, Bewunderung oder sexuelle Gratifikation. Sie spielt Machtspiele. Denn sie steht dabei unter der Knute eines narzisstischen Egos, statt vom Licht eines reinen und offenen Herzens erfüllt zu sein.

Damit näherte ich mich der Antwort auf die Frage nach dem Wesen der Liebe. Ich begann zu ahnen, dass sie nicht der regressive, rauschhafte Zustand der Idealisierung eines anderen Menschen sein kann, sei er Liebhaber, Therapeut oder Guru. Idealisierung in jeder Form reinszeniert eine frühkindliche Perspektive auf die scheinbar allmächtigen Eltern.

Ich erinnere mich an ein Schlüsselerlebnis. Meine Tochter befand sich im Kleinkindalter, die Kleine fühlte sich auf einer Autofahrt auf der Rückbank von der Sonne gestört und forderte: »Mama, mach die Sonne weg!« In dieser frühkindlichen Lösung, den Eltern omnipotente, quasi-göttliche Macht zuzuordnen, findet sich eine archaische Form des narzisstischen Egos, das im Erwachsenen auf verschiedenen Ebenen weiter wirkt: In Verliebtheitsgefühlen, im Fankult, in der Verehrung politischer oder religiöser Führer und Ideologien, letztlich in allen sozialen Systemen fanatischer Gefolgschaft, die auf vergöttlichenden Perspektiven beruhen.

Das Ego sucht sich allzu gern Helden, das gilt in der Welt der Politik, der Unterhaltungsindustrie, des Sports, der Wirtschaft, der Kultur, aber auch der therapeutischen und spirituellen Szenerien. Auf letztgenannten Feldern, die sich ja die Transformation und Befreiung der Seele auf ihre Fahnen geschrieben haben und hier Thema sind, stellt es vermutlich die größte Herausforderung für einen Therapeuten, einen spirituellen Lehrer oder geistigen Führer dar. Manche Propheten, Jesus Christus, Petrus und seine Nachfolger, aber auch Osho, Adi da und viele andere scheiterten daran: Aus Bewegungen, die dem Weg zur Liebe folgten, entwickelten sich Kirchen, Kreuzritter und Kalifate mit vielen Spielarten narzisstischen Machtmissbrauchs.

(Fortsetzung folgt)

Sonntag, 22. April 2018

SEINSORIENTIERTE KÖRPERTHERAPIE (237): Die Vertreibung des Wunders und des Wundersamen


Wilhelm Reich, der Pionier der modernen Lebensenergieforschung, beantwortete die Frage nach dem Wesen des von ihm postulierten »biologischen Kerns« unzureichend. Zwar ahnte er eine Verbindung zur Liebe als Qualität der primären Persönlichkeit. Doch wo man die energetische Quelle physiologisch ausmachen konnte, darüber existierten nur undeutliche Hinweise. »Irgendwie« ordnete er die sexuelle Energie und ihren ungehinderten Fluss im Organismus dieser primären Persönlichkeit zu, diagnostisch manifestiert in seinem Idealtypus des »genitalen Charakters«. Doch wie hingen Sexualität und Liebe energetisch zusammen? Entsprang die Quelle der Liebesfähigkeit eines Menschen seinem ungepanzerten Becken?

Die Annahmen Reichs hatten mich nicht überzeugt, ich spürte, dass die menschliche Seele und das Thema Liebe mehr charakterisierten als eine frei gelebte, ungepanzerte Sexualität.

Paul Pearsall gab den entscheidenden Hinweis:
  
»Das Herz ist der Haupterzeuger von Info-Energie. Das Herz sendet fortwährend info-energetische Signale mit einem bestimmten Muster aus, welche die Organ- und Zelltärigkeit im ganzen Körper  regulieren.
Da wir Manifestationen dieser Info-Energie sind, die von unserem gesamten Zellsystem absorbiert, intern weitergeleitet und ständig an die Außenwelt emittiert wird, ist das Wissen, wer wir sind und wie wir uns fühlen, eine physische Repräsentation von Zellerinnerungen, auf die wir Zugriff haben.« (Pearsall, Paul 1999, S. 39)

Dass das Herz nicht nur seelisch, sondern auch energetisch-funktionell eine derart zentrale Bedeutung im Leben des Menschen besitzt, leuchtete mir umgehend ein. Dieses Modell des Herzens als Energiezentrum, das Signale von höchster Intensität aussendet, die nicht nur den eigenen Organismus beeinflussen, sondern weit über die eigenen Körpergrenzen hinausreichen, gab Antwort auf viele offene Fragen und Phänomene, auch auf das der Liebe. Pearsall bezeichnete seine Lehre als »Kardioenergetik«.

Mir fiel es wie Schuppen von den Augen: Die Fixierung auf das Gehirn und die Logik des Verstandes lässt sich als kulturgeschichtliches Erbe der Aufklärung interpretieren. Das Wilde, das Unberechnenbare, die Magie und das Irrationale des Herzens und seiner Gefühle hingegen wirken bedrohlich auf ein mechanistisch-rationales Verständnis des Menschen und seines Wesens. In dieser Weltkonstruktion bedarf es eines überlegenen Generals, einer von seinem Feldherrnhügel die Szenerie überschauende Autorität, die alles kontrolliert und der sich alles unterzuordnen hat: das Gehirn.

Nur, dieses Menschenbild ist nicht das einzige, das in der Geschichte der Menschheit eine Rolle spielt. Es existieren Kulturen, deren intuitives Wissen und transzendente Weisheit über die menschliche Natur dem Modell der Kardioenergetik in manchem näher steht als die westliche. Das westlich-rationale Denken erfasst die Wirklichkeit auf eine analytische, also trennende und zerlegende Weise. Es trennt nicht nur die Totalität der Wirklichkeit selbst, sondern auch das erkennende Subjekt vom betrachteten Objekt; an dieser Gestaltungsweise des Denken konnten auch die Erkenntnisse der Quantenphysik nichts Entscheidendes ändern.

Damit wurde nicht nur das Wunder, das Wundersame und Wunderbare, sondern auch der Zauber des Zufalls und der Zauber der Schöpfung selbst aus der Wahrnehmung des Menschen vertrieben. Geistesgeschichtlich mag es eine verheerend wirksame Waffe darstellen, welche die Aufklärung gegen die Macht des Klerus und der Feudalstrukturen zum Erfolg führte. Allerdings feiern in unseren Tagen die Dämonen des Irrationalen gerade auf dem Feld der Politik fröhliche Urständ. Was den Verdacht aufkommen lässt, dass auf diese Weise das Verdrängte und Abgespaltene mit einer destruktiven Wucht an die Oberfläche drängt, die es unberechenbarer und unbeherrschbarer machen.

Zudem nährten meine Erfahrungen und Erkenntnisse den Eindruck, dass die instinktiven und intuitiven Fähigkeiten des Menschen unseres Kulturkreises immer weiter verkümmerten, was sich insbesondere im Umgang mit seinen eigenen Nachkommen und in seinem Liebesleben manifestierte.

Dazu trat die Erkenntnis, dass die körpertherapeutische Tradition, der ich mich bisher verbunden fühlte, sich von vielen dieser Aspekte unberührt zeigte, Grenzen und Begrenzungen aufwies, die nicht nur auf die Methoden selbst, sondern auch auf die Begrenzungen ihrer Protagonisten verwiesen. Insbesondere das Narzissmus-Phänomen blieb so auf der Agenda.

In all dem fand sich der Ausgangspunkt einer Reise, die mich in den folgenden Jahren in Landschaften führen sollte, die einen anderen Bereich menschlichen Wissens als den analytisch-rationalen markierten: dem der Metaphysik, der spirituellen Traditionen und Weisheitslehren der Menschheit.

(Fortsetzung folgt)

Sonntag, 15. April 2018

SEINSORIENTIERTE KÖRPERTHERAPIE (236): Heilung aus dem Herzen


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Von welch ungeheurer Kraft und Bedeutung muss Liebe sein, wenn sie als Bindungsimpuls bereits in frühester Kindheit, trotz vieler Widrigkeiten, wirkt? Im Leben von Jugendlichen und Erwachsenen drängt sich die Sexualität mit aller Macht ins Bild. Ob gelebte Sexualität mit Liebe verbunden wird, könnte dies auf früheste prägende Bindungserfahrungen verweisen?

Ich fühlte mich auf der Spur, aber noch keine Klarheit in mir.

Neben Erfahrungen können Bücher Geschenke des Lebens sein, nicht weil sie schön verpackt sind, sondern weil ihr Inhalt einen verändernden, »verrückten« Blick auf das Leben auslöst. Bücher, bei denen es wie Schuppen von den Augen fällt.

Einst fiel Wilhelm Reichs Funktion des Orgasmus auf den fruchtbaren Boden meiner Suche nach Antworten. 30 Jahre später traf ich auf ein Buch, das mich in ähnlicher Weise wachrüttelte: Heilung aus dem Herzen – die Körper-Seele-Verbindung und die Entdeckung der Lebensenergie des Psychoneuroimmunologen Paul Pearsall (Pearsall, Paul 1999).

Pearsall gab eine einfache Antwort: Die Quelle und das Instrument jeder Verbindung und Bindung zwischen Menschen ist sein Herz, das Organ der Liebe.

Er fand und benannte damit gleichzeitig das fehlende Kernelement für das Verständnis der primären Persönlichkeit des Menschen und der Quelle seiner Lebensenergie.

Die primäre, liebende Natur des Menschen, bei Kohut das »Kernselbst«, bei Balint die »primäre Liebe«, bei Reich der »biologische Kern«, führen nach Pearsall zurück in ihren Ursprung:: in das Energiesystem des Herzens.

Er zeigt, dass das menschliche Herz weit mehr als eine mechanische Pumpe darstellt. Sein elektromagnetisches Feld wirkt bis zu 5000 mal stärker als das des Gehirns. Welche Funktion erfüllt es damit?

Pearsall Forschungen und wissenschaftliche Schlussfolgerungen, seine Tiefeninterviews mit Herztransplantatempfängern und andere Quellen deuteten auf etwas, was jeder Mensch und jede Kultur offensichtlich weiß: Das Herz und die Seele bilden eine Einheit.

Untermauert wird dies nicht allein durch Hinweise aus unserer Körpersprache, die auf das Herz zeigt, wenn ein Mensch vom Selbst oder dem Sitz seiner Seele spricht. Wer deutet in diesem Fall schon auf seinen Kopf?

Dennoch, die moderne westliche Wissenschaft neigt dazu, das Seelenleben vollständig dem Gehirn zuzuordnen. Selbst der Tod wird nicht mehr mit dem Stillstand der Herz-, sondern der Gehirnfunktionen definiert. Das Herz hingegen erscheint als eine mechanische Pumpe, ein hochentwickelter Muskel, der, wird er disfunktional, repariert und transplantiert werden kann.

Ich fragte mich, ob hier nicht ein merkwürdiges Ungleichgewicht im kulturellen Bewusstsein über die Funktionen von Herz und Gehirn herrschte. Was steckte dahinter?

(Fortsetzung folgt)

Sonntag, 8. April 2018

SEINSORIENTIERTE KÖRPERTHERAPIE (235): Das verlorene Paradies der Liebesfähigkeit

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So spiegelte sich im Gesellschaftlichen vieles von dem, was in den gemeinsamen Elementen der vorherrschenden Persönlichkeitsstrukturen angelegt war. Zeigen sich Übertragungen dem Blick des Therapeuten, stellen sie ein wertvolles Handwerkszeug für den Transformationsprozess dar. Agieren sie hingegeben unbewusst und ungehemmt in andere Beziehungen hinein, verursachen sie Konflikte und Leid. Repräsentieren Übertragungen und Idealisierungen vom Einzelnen auf das Ganze in Gestalt politischer und religiöser Ideen, die in der Sozialgeschichte viel Unheil anrichten, die unerledigten Geschäfte einer zerstörten Liebesfähigkeit?

Es schien mir, als ob mit der Geburt jedes Kindes das Geschenk der Liebe von neuem in die Welt gebracht wird. Jedes Neugeborene symbolisiert die Chance, zu lieben, lieben zu lernen. Wie regelmäßig wird dieses Geschenk in der eitlen Pose des Egos zurückgewiesen, ignoriert oder verachtet?

Ein Kind muss lernen, seine liebende Natur zu verleugnen, bis am Ende des Weges der Hochmut des Ego-Verstands und nicht mehr das wilde liebende Herz sein Dasein bestimmen, es wird gezähmt, hoffähig gemacht.

All dies geschieht zum Preis seelischer Verhärtungen, die sich in die Körperseele des Kindes, und, erwachsen geworden, in die seiner eigenen Nachkommen eingraben. Ein Teufelskreis, wird er nicht durchbrochen, der sich von Generation zu Generation fortsetzt.

Hier stieß ich auf jene Dualitäten, mit denen die Menschheit ringt: Gott und Teufel, Gut und Böse, Himmel und Hölle, Hell und Dunkel, Licht und Schatten: Die eine Polarität findet sich in dem Geschenk der Herzenswärme, die mit jedem Neugeborenen in die Welt getragen wird (und einen wesentlichen Teil des Christusmythos ausmacht(*FN*    Wilhelm Reich hat sich unter diesem Aspekt in seinem Buch «Christusmord» ausführlich mit dem Christusmythos beschäftigt*FN*)). Die andere wirkt als die destruktive Kraft der Übertragungen, welche in der Tiefe die ungelebten und verzerrten Liebessehnsüchte der Menschen repräsentieren.

Das verlorene Paradies der Liebe zeigt sich in allen Kulturen: In jenen kitschigen oder sentimentalen Liebesliedern und Schlagern, die sich bei den Völkern der Welt fanden, in den Arien der großen Opern, in Literatur und Kunst. Ein erheblicher Teil des kulturellen und kreativen Schaffens drehte sich um das Sujet der Liebe. Handelte es sich dabei lediglich um die Sublimierung des Sexualtriebes, wie Freud annahm oder war hier eine eigenständige Wirkkraft am Werk? Deutete dies alles nicht auf eines: Auf die ungeheure Wirkkraft der und die ungestillte Sehnsucht nach Liebe im Leben der Menschen?

Doch was war Liebe? Freuds Triebtheorie und die darauf basierenden Antworten Reichs überzeugten mich nicht. Das psychische Erleben sollte einfach nur eine Spiegelung des sexuellen Trieberlebens darstellen?

Sexualität beeinflusste das Seelenleben nachhaltig, das stand außer Frage. Repräsentierten Liebesgefühle nur die halluzinierten Tagesreste eines befriedigenden oder unbefriedigenden Sexuallebens? Oder fand sich hier ein eigenständiges bio-emotionales Grundbedürfnis? Bildete die Spaltung von Sexualität und Liebe das Hintergrundszenario für sexuelle und seelische (Selbst-)Entfremdungsprozesse?
 
Nicht schon die Wortwahl verweist auf Nuancen: Erfahre ich ein »befriedigendes Sexualleben« oder ein »erfülltes Liebesleben«? »Befriedigend« verweist auf das Triebhafte, im Sinne von Hunger und Sättigung. »Erfüllt« deutet auf eine seelische Komponente, die hinzutritt, ähnlich, wenn ich von »Liebesleben« statt »Sexualleben« spreche.

Die Bindungsforschung bot über das Triebmodell hinausgehende Antworten an. Dass der Mensch ein Bindungswesen ist, konnten die Forscher seit John Bowlby immer wieder eindrucksvoll nachweisen.
Menschliche Bindungsbedürfnisse, insbesondere in der frühkindlichen Entwicklung, gebärden sich dermaßen auffällig, dass die Bindungsimpulse selbst dann keinen Schaden nehmen, wenn sie auf eine eingeschränkte Liebesfähigkeit eines oder beider Elternteile treffen. Was den berühmte »Normalfall« darstellt, nach dem gern gefahndet wird.

Auch die moderne Säuglingsforschung, die Daniel Stern begründete, gab zahlreiche Hinweise auf das bindungsorientierte Wesen des Babys. Sie lieferte wertvolle diagnostische Anhaltspunkte für Störungen in der Mutter-Kind-Interaktion und die daraus resultierenden Einflüsse auf die Persönlichkeitsentwicklung des Menschen.

Die Phänomenologie der Liebe als menschliche Bindungs- und Sozialkompetenz konnten die Forscher eindrucksvoll beschreiben und nachvollziehbar machen. Doch die Frage nach dem Wesen der Liebe, die den Menschen prägt und bewegt, und zwar ein Leben lang, blieb für mich noch immer ein Stück im Dunkel.

(Fortsetzung folgt)

Samstag, 17. März 2018

SEINSORIENTIERTE KÖRPERTHERAPIE (234): Warum liebt ein Kind seine Eltern?

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Es gab Fragen, die erschienen so banal, dass man sie gar nicht erst stellte. Ein Beispiel fand sich in dem Phänomen der Liebe zwischen Eltern und Kindern.

Es erstaunte, dass fast jedes kleine Kind Vater und Mutter in einem Maße liebte, sie idealisierte und verklärte, das deutlich über eine Resonanz auf die Elternliebe hinausging. Dies blieb selbst dann zu beobachten, wenn die Beziehung der Eltern zu ihrem Kind nicht gleichermaßen Liebe, Zuwendung und Achtsamkeit, sondern Egoismus, Abweisung und Missachtung prägte. Ein eklatanter Unterschied zwischen der Liebesfähigkeit von Eltern und Kindern schien wenig zu ändern an diesem fast naturgesetzlichen Phänomen.

Es erweckte den Eindruck eines nahezu unbegrenzten »Liebesvorschusses«, den die Kleinen Mama und Papa schenkten. Wirkten hier noch umfassendere Faktoren als eine Bindungsenergie, die sich nährte aus dem Schutzbedürfnis der Babys und Kleinkinder? Arbeitete hier eine Kraft, eine Lebenskraft, eine Energie, die über die Biologie einer Libido im Sinne Freuds und Reichs hinauswies?

Meine wachsenden Erfahrungen in der transformativen Arbeit verdeutlichlichten mehr und mehr: Selbst neurotische oder schwerere Störungen auf Seiten der Eltern verhinderten jenen »Liebesvorschuss« des Kindes nicht. Ein Kind wendeten sich nicht umgehend schaudernd ab, selbst andauernde seelische und körperliche Gewalt erstickten die kindliche Liebe nicht, formten sie jedoch maßgeblich.

Es versetzte mich in Erstaunen, unter welchen widrigen familiären Verhältnissen manche Kinder ihre innere Integrität bewahren konnten. Während andererseits Menschen bei scheinbar günstigeren Ausgangsbedingungen psychische Verwerfungen aufwiesen, deren Ausmaß verblüffte. Es stellte sich die Frage, ob neben tiefenpsychologischen Einflussfaktoren noch weitere Katalysatoren existierten, welche dafür verantwortlich zeichnen. Bildet allein die Erfahrungsgeschichte den Boden, in dem eine relative seelische Gesundheit im Erwachsenenalter wurzelt? Was definiert sie? Ich begann zu ahnen, dass die Liebesfähigkeit des Menschen damit in Zusammenhang steht. Aber auf welche Weise?

Das innere Kind im Erwachsenen suchte ein Leben lang jene Resonanz von Liebe, die es in der Beziehung zu den Eltern am Ende nicht fand. Es blieb ein Kreis offen, ein Bereich nicht beantworteter und nicht gelebter Liebe. Dieser bildete das Reservoir und den Ausgangspunkt aller Übertragungsprozesse.

Da sie nicht durch reale Bindungserfahrungen geerdet waren, vermischten sie sich mit den – kompensatorischen – Grandiositätsphantasien des narzisstischen Egos. Es steckte eine gehörige Portion Verzweiflung in der Grenzenlosigkeit solcher Vorstellungswelten, ein Hunger, eine Gier, die sich ins Unermessliche und gleichzeitig Irrationale steigern konnte.

Das Ego glich auf diese Weise die erfahrenen Defizite von Liebe mithilfe einer Persönlichkeitsstruktur aus, die unersättlich zu gieren schien nach der Anerkennung und Bestätigung durch andere, die gleichzeitig ein hohes Maß an bindungsloser und realitätsverleugnender Ich-Bezogenheit aufwies. Entkoppelt von der Realität, mussten sich sich diese Anstrengungen als Abstraktionen erweisen.

 »Abstraktionen in der Wirklichkeit geltend machen, heißt Wirklichkeit zerstören« bemerkte Hegel einmal in Zusammenhang mit gesellschaftlichen Idealen. Es deutete auf ein markantes Merkmal nicht nur der vorherrschenden, vom narzisstischen Ego dominierten sozialen Prozesse, sondern unserer gesamten Kultur. So spiegelte sich im Gesellschaftlichen vieles von dem, was in den gemeinsamen Elementen der vorherrschenden Persönlichkeitsstrukturen angelegt war.

(Fortsetzung folgt)

Samstag, 10. März 2018

SEINSORIENTIERTE KÖRPERTHERAPIE (233): Die Höllenangst vor der Liebe

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Die Maske herrschte, nicht die Wahrheit. Galt das auch in der Therapie? Fanden sich hier die gleichen Mechanismen wir wie im normalen Leben? Was galt es auf diese Weise, mit diesem Aufwand, zu schützen, zu kontrollieren?

Ging es um etwas Tieferes, das Selbst, den Kern der Persönlichkeit, jenen inneren Raum jenseits der Ich-Strukturen? Was aber kennzeichnete das Wesen dieses Selbst? Der »biologische Kern«, von dem Reich sprach, firmierte als eine Art Grundausstattung des Menschen, betrachtet man es als energetisches System. Damit grenzte er sich vom Bauchladen des Freudschen Unbewussten ab, in das alles hinein passte, was nicht dem Bewussten entsprach. Oder präsentierte sich das Selbst als jene unveränderliche, Inkarnationen überdauernde Wesens-Instanz der Persönlichkeit (»Atman«), wie Hindus glauben?

Der Begriff »organismische Wahrheit«, den ich in meinen Veröffentlichungen verwendete, verknüpfte die biologistischen Äußerungen Reichs mit der Instanz des Spirituellen, Physik mit Metaphysik. Gleichzeitig nahm ich ein Unbehagen wahr, denn all diese »Selbst-Konzepte« muteten etwas abstrakt an. Gab es einfachere Antworten?

In allen Systemen, den westlich-psychologischen und den östlich-spirituellen, tauchten zwei Begriffe immer wieder auf: Liebe und Herz.

Zielten all die Bemühungen der narzisstischen Ich- und Weltkonstruktionen darauf, das eigene Herz, die Quelle seiner liebenden Natur zu schützen? Sollte es so einfach sein?

Das narzisstische Gieren nach dem bewundernden Blick der Anderen, repräsentierte dies eine subtile Form des Bedürfnisses nach einem »Sich-Lieben-Lassen«, ohne dabei selbst zu lieben? Steckte hinter dieser Gier nach Anerkennung ein dramatisches Defizit, ein existentieller Hunger und Durst nach Liebe?

Spürte man aufmerksam hinter die Fassade der Worte und Verhaltensweisen, trafen diese Muster auf jeden Menschen mehr oder weniger zu. Menschen sehnen sich nach Liebe. Gleichzeitig verspüren sie eine Höllenangst davor, ihr Herz zu öffnen, bedingungslos und authentisch und aus dem Herzen heraus zu sein, ohne Netz und doppelten Boden Liebe zu leben. Abgesehen von kurzen Phasen des Verliebtseins, das oft regressive und realitätsverleugnende Eigenschaften aufweist. Doch wie hing dies zusammen?

Bezogen auf die psychoanalytische Charakterlehre und Charakteranalyse Reichs skizzierte ich erste Entwürfe, in denen ich den Kern des Charakters nicht mehr allein auf die Prägungen der psychosexuellen Entwicklung zurückführte, sondern auf die Erscheinungsformen dessen, wie ein Kind lernt, seine Liebe zurückzuhalten und zu verformen, sein Herz zu schützen. Der Schizoide flüchtet sich beispielsweise in die Paradiesvorstellungen seines Intellekts, der Anale in Zwangsrituale, der Phalliker in dominante Grandiosität, der Hysteriker in die Flucht vor emotionaler Nähe usw.

Bald betrachtete ich narzisstische Verhaltensmuster als ubiquitäres Phänomen, das in deutlichem Zusammenhang mit den menschlichen Bedürfnissen nach Halt, Bindung und Liebe stand. All das wurde bereits in der frühesten Entwicklung geformt und geprägt.

(Fortsetzung folgt)

Samstag, 24. Februar 2018

SEINSORIENTIERTE KÖRPERTHERAPIE (232): Die Maske herrscht, nicht die Wahrheit

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Ich beobachtete weiter, mich selbst und andere. In narzisstischen Verhaltensmustern zeigte sich ein augenfälliges Bedürfnis nach Anerkennung und Geliebtwerden. Selbst Fremden gegenüber und Menschen, zu denen keinerlei Beziehung bestand, ließ sich solches Gebaren beobachten.

Das ging soweit, dass das eigene Kind, der Freund oder Partner öffentlich beschämt oder beschimpft wurde, um gegenüber den anonymen Blicken Fremder zu bestehen. Hier zeigte sich nicht nur um ein situationsbedingtes Verhalten, sondern eine »Haltung«, die sich als »soziale Maske« (W. Reich) durch das Leben zog. Der Verrat, den jemand als Kind durch seine Eltern erlitten hatte, wiederholte sich so an denjenigen, denen man sich verbunden fühlte.

Das narzisstische Ego trat unbewusst als Racheengel des ungeliebtes inneren Kindes auf. Es traf nicht nur das eigenen Herz, sondern auch das Herz derjenigen, mit denen man in Liebe verbunden war. Zudem suchte es fatalerweise nach Antwort in der Außenwelt, statt in der Beziehung zu sich selbst. Die Strategie führt genauso wenig zur Liebe wie der bei manchen Menschen lebenslange Versuch, von den Eltern im Nachhinein die heilende Liebe zu erfahren, die man als Kind vermisste.

Bei denjenigen, die scheinbar auf gesellschaftliche Konventionen pfeifen, fand sich dieser stumme »Schrei nach Liebe«, nur bezog er sich nicht mehr auf die Gesellschaft, sondern auf die Subkultur, der man sich zurechnete und deren Bedeutung für die eigene Identität bis hin zum Fanatismus anwachsen konnte.
 
Ein weiteres Merkmal des narzisstischen Egos fand sich in den kommunizierten oder verborgenen Grandiositätsphantasien. Im üblichen Sprachgebrauch gibt es für die offene Variante viele Worte dafür: »Schaum schlagen«, »aufschneiden«, »angeben«, »prahlen«, »protzen«, »sich aufplustern« usw. Das Selbstbild, das sich hierin präsentierte, besaß Eigenschaften eines Werbeclips. Der versprach eine heile Welt, von der alle Beteiligten, die Macher und die Zuschauer, wussten, dass sie verlogen war. Ein einzigartigen Heldenepos, ein Werbeclip, der rund um die Uhr läuft, und dessen einzige Funktion darin bestand, Erwartungen zu erfüllen, durch die man sich eine Antwort von Geliebtwerden erhoffte.

Schwieriger zu erkenen als der Prahlhans erwiesen sich diejenigen, die bescheiden, zurückhaltend auftreten und bei denen die Grandiosität verborgen im Inneren aufschien und nur im Verhalten erkennbar wurde. Das Muster war das gleiche: Der Schrei nach Liebe verbarg sich hinter der Maske der Bescheidenheit und Zurückhaltung, um die verinnerlichten Erwartungen zu erfüllen, die Liebe versprachen. Ich gewann den Eindruck, dass all diesen Haltungen gemeinsam ein kleines, verlorenes, sich nach Liebe sehnendes Kind verborgen war, dass sich zum Ausgleich aufplusterte, großartige machen musste, um zu überleben. Das narzisstische Ego ließ sich also als ein Kompensationsmechanismus interpretieren, ein Heilungsversuch für ein Selbst, dass sich überhaupt nicht großartig, selbstbewusst und stark empfand, sondern klein, unsicher und schwach.

Dazu passten auch die ausgeprägten Schutz- und Kontrollmechanismen, die mit Empfindlichkeiten gegenüber jeder Art von Kritik verknüpft waren. Sobald ein Hauch von kritischer Sichtweise herüberwehte, traten Abwehrmechanismen unterschiedlicher Couleur hervor: Wutausbrüche, Halsstarrigkeit, rechthaberischer Trotz, Beleidigtsein, Beschimpfungen, Rückzug, Kontaktabbruch, Überheblichkeit, Verachtung. Sie stellten nur einige Varianten dessen dar, wie Menschen in sozialen Zusammenhängen auf kritische Äußerungen reagieren.

Doch in der alltäglichen Kommunikation zwischen Menschen stand eines im Vordergrund, ein unausgesprochenes »Rührmichnichtan«, bezogen auf das narzisstische Ego. Wir nannten es »Konvention« oder »Höflichkeit«, Reich sprach von der »sozialen Maske«, in der Politik hat man es als Kunst der »Diplomatensprache« zur höchsten Stufe der Abstraktion von jeglicher Gefühlsäußerung entwickelt.

Offensichtlich existiert ein stillschweigendes Übereinkommen, das narzisstische Ego, das Bild, die Geschichte, die jemand sich selbst und anderen vermitteln will, nicht infrage zu stellen. Es gilt, zu verhindern, dass der andere »sein Gesicht verliert«. Gemeint ist die Maske, denn fiele die Maske, kämen authentische Emotionen zum Vorschein (s. o.). Was es um jeden Preis zu verhindern gilt. So verrückt sind wir Menschen, »verrückt« von der Wahrheit, der Authentizität. Die Maske herrscht, nicht die Wahrheit.

(Fortsetzung folgt)