Sonntag, 25. April 2021

SEINSORIENTIERTE KÖRPERERFAHRUNG (281): Die Heiligsprechung der Individualität und ihre Schatten

Bild von Hans-Joachim Müller-le Plat auf Pixabay
 

Historisch betrachtet ermöglichten Aufklärung, Rationalismus und Naturwissenschaften einen Quantensprung in der Entwicklung der Menschheit. Sie halfen, das Bollwerk der Stagnation von Klerus und Feudalstrukturen zu Fall zu bringen. Sie sorgten für eine grundlegende Verbesserung der Lebensbedingungen, für Wohlstand und technischen Fortschritt nie zuvor gekannten Ausmaßes.

Doch wie sah es Innen, in den Seelen der Menschen aus? Die  Wissenschaft von der Seele, Psychologie und Psychotherapie, ließen sich durchaus auch in dieser Tradition verorten. Hatten sie einen Beitrag leisten können, die innere Armut, die Armut der Seelen zu besiegen?

Die Realität, der ich mich gegenübersah, ließ Zweifel aufkommen. Die mathematische Erfassung aller Lebensbereiche und ihre Algorithmen, auf Sprache und Codierung beruhende technische Kommunikationsgeräte beherrschten den Alltag. Im Kontrast dazu feierten die Dämonen des Irrationalen, emotional getriggerte Kettenreaktionen, Asozialität und überbordender Narzissmus bis hin zu den modernen Verschwörungserzählungen fröhliche Urständ. Was den Verdacht verstärkte, dass das Abgespaltene mit destruktiver Wucht an die Oberfläche drängte, es unberechenbarer und unbeherrschbarer zeitigte.

Zudem nährten meine Erfahrungen den Eindruck, dass nicht nur die sozialen, sondern auch die instinktiven und intuitiven Fähigkeiten des Menschen unseres Kulturkreises immer weiter verkümmerten, was sich insbesondere im Umgang mit den eigenen Nachkommen und im Liebesleben manifestierte. Haltlosigkeit schien ein ubiquitäres Phänomen zu sein.

Die Heiligsprechungen der Individualität und der isolierten Persönlichkeit basierten auf einer Illusion, die eine Fixierung auf das Gehirn im Zusammenspiel mit der Abspaltung und Verkümmerung unserer metaphysischen Potentiale beförderte. In Wahrheit waren wir, wie es alle spirituellen Lehren nahelegten, Teil und Baustein einer universalen Schöpfung, standen ständig unter ihrem Einfluss. Die profane Tatsache, dass in allen Kulturen, in allen Epochen ein spirituelles Weltbild vorherrschte, dass in der Tiefe der menschlichen Seele eine natürliche Spiritualität verankert zu sein scheint, wies in diese Richtung. Die folgende Empfehlung von Paul Pearsall erschien mir angesichts des Weltzustands aktueller denn je:

»Wir sollten das Streben des Gehirns nach Individualismus und seines Mottos ‚jeder ist sich selbst der Nächste‘ ignorieren und versuchen, die Xenophobie zu überwinden, die uns allen zu eigen ist, weil die Angst vor allem, was fremd ist, im Verlauf der Evolution in unseren Zellen gespeichert wurde. Unsere Zellen haben möglicherweise auch Erinnerungen an ein Quantenparadies bewahrt, an eine weniger selbstsüchtige, wesentlich erfülltere Zeit, in der alles in der Schöpfung miteinander verbunden war.« (   Pearsall, Paul (1999), S. 97)

Der Hinweis auf das »Qantenparadies« war eine frappierende Vorstellung. Sie machte das Prinzip organismischer Erwartung von frühester Kindheit an, das Jean Liedloff als »continuum concept« (vgl. Liedloff, Jean (2020)) bezeichnet hatte, plausibel. Auch die der Körperseele innewohnenden »Selbstregulierung« (Reich) und das damit verbundene Potential der Selbstheilung, die uns in der Körpertherapie begegnete, erschien sinnfällig.

Dem gegenüber stand die Erkenntnis, dass die körpertherapeutische Tradition, der ich mich bisher verbunden fühlte, sich von vielen dieser Aspekte unberührt zeigte, Grenzen und Begrenzungen aufwies, die nicht nur auf die Methoden selbst, sondern auf die ihrer Protagonisten verwiesen. Insbesondere das Narzissmus-Phänomen blieb auf der Agenda.

In all dem fanden sich Beweggründe einer Reise, die mich in Landschaften führten, die ein anderes Terrain menschlichen Wissens als das des analytisch-rationalen markierten: die der Metaphysik, der spirituellen Traditionen und Weisheitslehren jenseits des westlichen Weltbildes.

 

Sonntag, 11. April 2021

SEINSORIENTIERTE KÖPERERFAHRUNG (280): Die Herrschaft des Gehirns und die Zerteilung der Wirklichkeit

Photo by TAHA AJMI on Unsplash
 

Nach den Erkenntnissen der Kardioenergetik sendete das Energiezentrum Herz Informationssignale höchster Intensität aus. Diese Informationsströme beeinflussten nicht nur den gesamten Organismus, sondern reichten weit über die eigenen Körpergrenzen hinaus. Pearsall stimmte mit Reich und Mesmer verblüffenderweise in der Feststellung überein, dass die Lebensenergie dem Prinzip der »Nichtlokalität« folgte.

»Nichtlokalität besagt, dass es in der winzigen, geschäftigen Welt mikrophysikalischer Erscheinungen, zu der auch die Körperzellen gehören, keine Barrieren gibt; dass die Zeit relativ ist; dass Masse, Energie und Information ein und dasselbe sind; dass Objekte, die einmal miteinander verbunden waren, bis in alle Ewigkeit info-energetische Erinnerungen an diese Verknüpfung bewahren; und dass eine Trennung, gleich welcher Art in der Welt, auf der menschlichen oder einer anderen Ebene, nur eine Sinnestäuschung ist.« (Pearsall, Paul (1999), S. 86)

Dieses Modell gab Antwort auf zahllose offene Fragen, erweiterte schlagartig meinen Blick auf unerklärte Phänomene. Mir fiel es wie Schuppen von den Augen: Die Fixierung auf das Gehirn ließ sich als kulturgeschichtliches Erbe interpretieren. Das Wilde, Unberechenbare des Herzens, seine Magie, Musik und Poesie, seine transzendente Kraft wiesen weit hinaus über den analytischen Blick einer abgespaltenen Rationalität, die das ordnende, quantifizierbare Menschenbild beherrschte.

In dieser Weltkonstruktion bedurfte es eines überlegenen Generals, einer vom Feldherrnhügel die Szenerie überschauenden Autorität, die alles nüchtern im Blick behielt und kontrollierte, einer Ordnungsmacht, der sich das Übrige unterzuordnen hatte: das Gehirn. Mit dem Gehirn einher ging die Heiligsprechung des Denkens, des Rationalen und die Abwertung all dessen, was nicht in dieser Ordnung entsprach.

Nur, dieses Bild vom Menschen war längst nicht das einzige, das in der Geschichte der Menschheit eine Rolle spielte. Es existierten Kulturen, deren intuitives Wissen und transzendente Weisheit über die menschliche Natur dem Modell der Kardioenergetik in vielem näher standen als die gehirndominierte westliche Lesart. Rationales Denken erfasste die Wirklichkeit auf analytische, also teilende, zerlegende Weise. Es zertrennte nicht nur Realität in ihrer Ganzheitlichkeit, sondern separierte auch das erkennende Subjekt vom betrachteten Objekt.

Damit wurden nicht nur die Mystik des Seelischen, sondern die Universen des Mysteriums, des Unerklärlichen, wundersamen und Wundervollen, einschließlich der menschlichen Sinne ihrer Wahrnehmung aus der Wirklichkeit vertrieben. Der Mensch verortete sich nicht länger als Teil der Schöpfung. Er avancierte zu ihrem Beherrscher, indem er seine Götter verbannte, mithilfe der modernen Wissenschaften die Metaebene und damit den Olymp eroberte. Sein analytischer Blick katapultierte ihn auf jenen Thron, auf dem in seiner gesamten Geschichte das Numinose saß.

Dort, wo das Herz seine Verbindung zum Wunder der Schöpfung nicht mehr fühlte oder dafür beschämt wurde, veränderte die menschliche Seele ihr Wesen. Wo vorher kindliche Neugier und Mana die Welt erfüllten, traten Forscherdrang und chirurgische Präzision auf den Plan, zerlegten die Welt, um sie eigennützig und eitel neu zusammenzusetzen.

(Fortsetzung folgt)

 

Montag, 5. April 2021

SEINSORIENTIERTE KÖRPERERFAHRUNG (279): Herz und Gehirn, Liebe und Sex

foto: Filipe Almeida, unsplash

Die westliche Wissenschaft neigte dazu, das Seelenleben vollständig dem Gehirn zuzuordnen. Selbst der Tod wurde nicht mehr mit dem Stillstand der Herz-, sondern der Gehirnfunktionen definiert. Das Herz hingegen erschien als mechanische Pumpe, als hochentwickelter Muskel, der, wurde er disfunktional, repariert oder ausgetauscht wurde.

Es drängte sich die Frage auf: Welche psychologische Implikation hatte diese merkwürdige kulturhistorische Abwertung der Funktion des Herzens?

Hinzu trat ein anderer Aspekt. Reich, Pionier der modernen Lebensenergieforschung, definierte nach meinen Empfindungen den von ihm postulierten »biologischen Kerns« unzureichend. Zwar deutete er eine Verbindung zur Liebe als Element der primären Persönlichkeit an. Doch wo er die energetische Quelle physiologisch ausmachte, darüber gab es nur vage Hinweise. »Irgendwie« ordnete er die sexuelle Energie und ihren ungehinderten Fluss im Organismus dem Wesen des Menschen zu, diagnostisch manifestiert in seinem Idealtypus des »genitalen Charakters«.

Wie hingen Sexualität und Liebe energetisch zusammen? Entsprang die Quelle der Liebesfähigkeit eines Menschen einem "ungepanzerten" Körper, insbesondere Becken, wie Reich nahelegte?

Seine Annahmen hatten mich nicht überzeugt, ich empfand innerlich die Gewissheit, dass seelische Gesundheit mehr charakterisierte als eine frei gelebte, ungepanzerte Sexualität (Reich sprach in diesem Kontext von der sog. »orgastischen Potenz«, die er als maßgeblich für einen nicht-neurotischen, psychisch gesunden Menschen betrachtete. Diesen bezeichnete er in seiner Terminologie als »genitalen Charakter«).

Eine Gemeinsamkeit sprang ins Auge: Wie das Herz (Ver)Bindung suchte, so fand sich auch in der Sexualität eine Triebkraft, die intensiv Vereinigung anstrebte. Herzen trachteten nach Verbindung, Genitalien ebenso. 

Blieben sexuelle Impulse abgespalten, herzlos, resultierte daraus die Tendenz zu Beziehungs-, insbesondere Bindungsstörungen. Im umgekehrten Fall, blieben Herzimpulse isoliert in Kontext gehemmter Sexualität, so potenzierte sich die Gefahr neurotischer Symptome. Liebe ohne Sexualität erwuchs zum Nährboden der Neurosen, ein Aspekt, auf den insbesondere Reich immer wieder hingewiesen hatte.

Nur, er hatte offenbar den Bindungscharakter des Herzens übersehen, damit den Wirkungszusammenhang von Liebe und Sexualität: Richteten sich beide, Herz und sexueller Trieb, auf das gleiche Liebesobjekt, verbanden sie sich, so entstand der Boden für Bindung, Beziehung, Liebesbeziehung.

Ein Unterschied zwischen Libido und Herzenergie war ohrenfällig: Die Stimme der Sexualität tönte oft machtvoll, unüberhörbar; die des Herzens hingegen leise, sie flüsterte eher. Es ist anzunehmen, dass auch hier eine Widerspiegelung patriarchalischer Strukturen zu diagnostizieren ist, wie überhaupt in der Dominanz des Ego-Verstands gegenüber jeder Art von Ressourcen des Gefühlslebens. Die Dominanz des Gehirns, des Ego-Verstands, spielten dabei eine wichtige Rolle.

Die Entdeckungen der Forschungen von Paul Pearsall rückte die Bedeutung des Herzens für das Leben insgesamt in ein völlig neues Licht. Paul Pearsall gab einleuchtende Hinweise:

»Da wir Manifestationen dieser Info-Energie sind, die von unserem gesamten Zellsystem absorbiert, intern weitergeleitet und ständig an die Außenwelt emittiert wird, ist das Wissen, wer wir sind und wie wir uns fühlen, eine physische Repräsentation von Zellerinnerungen, auf die wir Zugriff haben.« (Pearsall, Paul (1999), S. 39)

Pearsall bezeichnete seine Theorie »Kardioenergetik«. Dass das Herz nicht nur seelisch, sondern auch energetisch-funktionell eine derart zentrale Bedeutung im Leben des Menschen besaß, leuchtete mir umgehend ein.

(Fortsetzung folgt)