Sonntag, 25. November 2018

SEINSORIENTIERTE KÖRPERTHERAPIE (251): Die Schamlosigkeit von Liebeslyrik

foto: vkd
Für mich wurde das Schreiben von Liebeslyrik ein Weg, in der die Stimme des Herzens ihren Ausdruck findet. Nicht nur personale und biografische Begegnungen finden hier ihre künstlerische Verarbeitung, sondern auch transpersonale, spirituelle Dimensionen der Liebe werden in diesen Gedichten thematisiert.

Wenn sie den einen oder anderen Leser berühren, in ihm ein Nachempfinden, Nachschwingen oder Mitfühlen auslösen, dann ist dies der kleine, bescheidene Beitrag des Dichters, die Welt an ihr Herz zu erinnern.

Lyrik vermag der Sprache des Herzens ebenso ihren Ausdruck zu geben wie Musik, bildende Künste oder andere Formen kreativen Schaffens, welche die Tiefe der Seele berühren.

Hand auf’s Herz: Die Sprache des Herzens ist ein universeller Selbstausdruck, der, verschüttet, verdrängt oder verzerrt, in jedem Menschen lebt und auf Antwort wartet, bisweilen laut, manchmal leise oder fast verstummt. Spricht das Herz und ein anderes lauscht »offenen Herzens« und antwortet, dann wird Glück, jener Augenblick von Glückseligkeit erfahren: das Verbundensein in universeller Liebe.

Irgendwann im Leben, spätestens im Augenblick des Todes, erkennt der Mensch seine Vergänglichkeit. Alles, was heute bedeutsam erscheint, verweht wie kalter Atem in der kühlen Winterluft. In einem Nahtoderlebnis, in dem mein ganzes Leben an mir vorüberzog, waren es die Bilder jener Augenblicke von Liebe, von erfahrener Verbindung der Herzen, welche die ekstatische Glückseligkeit, die ich in diesem Moment empfand, begleiteten.

Schließt sich hier der Kreis des Lebens, in dem im Augenblick des Todes die Wahrheit der Liebe aufscheint, aus der alles Lebendige kommt, ja, welche das Leben an sich ist?

Mögen die Prioritäten und Werte im Leben des Einzelnen weit davon entfernt sein, geprägt von Macht, Geld, Gier, Erfolg und anderen Fetischen des Ego-Verstands, die Wirkkräfte des Lebens, die Energie der Liebe, bleiben hinter all dem lebendig, um zum Zeitpunkt des Todes in ihrer ganzen Schönheit aufzuscheinen: In ihr begegnen wir dem tiefsten menschlichen Wesen, der Wahrheit, den Triebkräften jener Sehnsucht, aus welcher der Mensch geboren wird, und in der er zurückfindet, wenn das Herz zu schlagen aufhört.

Ich habe im vorangegangenen Kapitel dargestellt, was es mit dem Herzen und mit seiner Beschämung auf sich hat, die in frühster Kindheit einsetzt. Liebeslyrik erweist sich als schamlos. Sie transzendiert die Erfahrung der Beschämung des Herzens, in dem sie der Stimme Raum gibt, sie zu ihrem Sujet erhebt.

Die Poesie der Liebe bietet all diesen Erfahrungen Raum, schenkt Bilder, Metaphern, Assoziationen, berichtet von Begegnungen im Inneren, in der Seele des Autors. Sie illustriert Dramen und Kämpfe, die aus den Konflikten zwischen Herz und Verstand resultieren. Sie gibt leisen Stimmen Raum, die sonst ungehört bleiben hinter dem Lärm dieser Welt. Sie öffnet sich, denn sie zeigt Herz.

Ein anderes Herz kann sich verbinden, in eigenen Bildern, Metaphern, Assoziationen, Eindrücken. Die Poesie der Liebe enthüllt die Seele dessen, der sie schreibt, und sie berührt diejenige des Lesers. Poesie war und ist immer ein Stück Liebespoesie, zeigt sie sich wahrhaftig, legt sie ihre »Hand auf’s Herz«. Die Historie, die Geschichte der Völker und Kulturen, ist voll von Liebesgeschichten, von Sängern und Sängerinnen, von Poeten und Poetinnen.

(Fortsetzung folgt)

Sonntag, 18. November 2018

SEINSORIENTIERTE KÖRPERTHERAPIE (250): Der Januskopf des Herzens

foto: pixabay

Gehirn und Ego-Verstand gerieren sich gegenüber der Stimme des Herzens und der Herzens anderer distanziert bis feindselig. Spreizen sich, eitel, stolz, besessen, ja berauscht von offenen oder verborgenen Grandiositätsphantasien. Bauen ein Leben lang eine feste Burg aus Meinungen und Urteilen, die angestrengt bis fanatisch verteidigt werden.

Es scheint, als gelte es, zu allem eine Meinung zu haben, alles zu beurteilen, alles zu denken, alles erklären zu können. Und wehe, jemand ist anderer Meinung, oder, schlimmer, kritisiert die eigene. Dann gerät die scheinbar feste Burg, die ganze Persönlichkeit ins Wanken, erzeugt Abwehrmuster, einem seelischen Erdbeben gleich.

Das ist die unermessliche Freiheit des Denkens, die unsere „aufgeklärte“ Gesellschaft repräsentiert. Eine Gesellschaft mit gestorbenem Mitgefühl für die Schöpfung. Eine Gesellschaft der Gier des Egos nach Selbstinszenierung, der Gier nach Macht, der Gier nach dem Materiellen. Doch die Dinge und das Geld leben nicht, können nicht antworten. Sie sind Spielzeuge für Lebewesen, die Angst vor dem Lebendigen haben.

Tote Dinge schenken keinen Frieden, geben weder Heimat noch Halt. Sie tönen, verheißen Glücksversprechen, die niemals eingelöst werden.

Was als Erfahrung von Beschämung begann, zur Scham wurde, wird zur Quelle der Beschämung überall dort, wo sich die Stimme des Herzens artikuliert: In sich selbst, in den Kindern, den einfachen »naiven« Menschen, in den Wilden, den »Unzivilisierten«, den aus ihrem Herzen heraus lebenden Frauen und Männern aller Zeiten und Kulturen. Wir nennen sie primitiv, einfältig, Träumer, Romantiker, weltfremde Spinner, „Gutmenschen“. Im Grunde muss eine leistungsorientierte, den Ego-Verstand heiligende Kultur sie verachten. Mit heiler Haut kommen sie nur dann davon, wenn sie nur verachtet, aber nicht vernichtet werden. Das war und ist nicht immer der Fall.

Was macht sie so bedrohlich? Erinnern sie an wilde, verborgene Sehnsüchte, abgetrieben, vergraben und eingeschlossen in den Tiefen der Seele? Begegnet man ihnen feindselig, weil sie den tiefen Schmerz, das wilde Tier der metaphysischen Sehnsucht berühren oder zu neuem Leben erwecken könnten? Erinnern sie an das, was hinter der eingekerkerten Seele, neben der Leere, unter dem Schmerz auf Befreiung wartet?

Immer dann, wenn ein Herz berührt wird, werden Scham und Schmerz angesprochen. Genau darin zeigt sich der Januskopf der Liebe. Wenn Liebe lächelt, krampft sich das beschämte, das gebrochene Herz allzu bald zusammen, unternimmt alles, um den alten Schmerz nicht wieder fühlen zu müssen. Persönliche Abwehrmuster von Spaltung und Verdrängung, von Verleugnung und Projektion, formieren sich zu einer kampfbereiten Front.

Muss die Stimme des Herzens deshalb sprachlos bleiben? Welche Wege weisen die Richtung, die fast vergessene Sprache des Herzens zu neuem Leben zu erwecken?

(Fortsetzung folgt)