Donnerstag, 31. Dezember 2015

SEINORIENTIERTE KÖRPERTHERAPIE (48): Bauchgefühle und das enterische Nervensystem



Im sexuellen Erleben kann unser Bewusstsein mit der Stimme des Herzens mehr oder weniger deutlich verbunden sein, in ähnlicher Weise gilt dies für die Beziehung des Bewusstseins zum Gefühlsleben. Das Gefühlsleben, die innere Welt der Gefühle und Empfindungen, können dem Bewusstsein mehr oder weniger präsent sein oder nicht, abhängig von der Persönlichkeit des Einzelnen. Stimme des Herzens und Gefühlsleben können daher als funktionell identisch betrachtet werden.

Neuere Erkenntnisse der Neurophysiologie deuten an, dass das sog. „enterische Nervensystem“ des Verdauungstraktes das Seelenlebens des Menschen weitaus mehr beeinflusst, als man es bisher annahm.

Diese Entdeckungen sind für uns in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert. Zunächst einmal unterstützen sie unsere These, dass es nicht in ausschließlich das Gehirn ist, das den Organismus steuert, sondern dass es durchaus Steuerungsmechanismen gibt, in denen organismische Informationen die Arbeit des Gehirns beeinflussen. Noch immer tendiert unsere Wissenschaft dahin anzunehmen, dass der gesamte Körper allein dazu dient, Ihre Majestät, die Schaltzentrale des Gehirn auf den Schultern zu tragen und untertänigst zu versorgen.

Wer weiß, vielleicht ist die wachsende Anerkennung des "enterischen Nervensystems“ nur der erste Schritt einer Reihe von bahnbrechenden Entdeckungen, in dessen Zentrum eines Tages die grundlegenden Funktionen des Herzens für Persönlichkeit und Seelenleben des Menschen rücken? Der Anfang ist jedenfalls gemacht.

Weiterhin bestätigen die erwähnten neurophysiologischen Untersuchungen, dass unser Seelenleben in erster Linie im Organismus seine wichtigste Quelle besitzt. Das Seelenerleben hingegen, eine solche Schlussfolgerung sei hier ergänzt, repräsentiert die gehirnphysiologische Verarbeitung dieser Informationen, das Seelenleben in für das Gehirn verdauungsgerechten Portionen.

Bemerkenswert erscheint mir zudem, dass die Forschung wachsend dazu neigt, anzuerkennen, dass es auch eine Art Körpergedächtnis gibt, also jene Zellerinnerungen, von denen oben bereits die Rede war, Zellerinnerungen, die in Verbindung mit Stresserfahrungen und Traumatisierungen, bleibende Spuren in Seele und Organismus hinterlassen:

"Früher Lebensstress ist eingebrannt in Gehirn und Bauch und bestimmt die Sensibilität der Darm-Hirn-Achse für das ganze Leben. Eine Beobachtung am Menschen stützt diese These: Kinder mit den berüchtigten Säuglings-Koliken wachsen nicht selten zu Erwachsenen mit irritablem Darm heran." [Geo 2000, S.156].

(Fortsetzung folgt)



Mittwoch, 30. Dezember 2015

SEINSORIENTIERTE KÖRPERTHERAPIE (47): Das Geheimnis des postorgastischen Trance

Noch ein Wort zu dem hier eingeführten Begriff der postorgastischen Trance: Ich halte diese für ein Phänomen, dass einer erfüllenden sexuellen Liebe genauso zugeordnet werden kann wie die orgastischen Erfahrungen selbst. Es handelt sich hier um jenen postorgastischen Zustand von Gefühlen von Liebe und Bindung zum Sexualpartner.

Ein Zustand, der mit einem eingetrübten Bewusstsein („Trance“), vegetativen Strömungsempfindungen und tiefer Entspannung einhergeht.

Wir sprechen hier über ein Phänomen, das ich an anderer Stelle als Zustand der Entregung definiert habe und das in Polarität zu den energetischen Erregungsprozessen steht. Kurzum: Dieses bio-emotionale Geschehen nach der Akme, dem eigentlichen Orgasmus, betrachte ich als wichtigen Teil des biologischen Gesamtprogramms, das der menschlichen Sexualität zugrunde liegt.

Angemerkt sei, dass es ein Literat, nämlich Milan Kundera, war, der die Bedeutung dieses von mir als postorgastische Trance bezeichneten Zustand hervorhob, nämlich in seinem berühmten Roman Die unendliche Leichtigkeit des Seins.

Zusammenfassend und soweit es das hier im Mittelpunkt stehende System der seinsorientierten Körpertherapie betrifft, gilt es die sexuelle Liebe als eine intime Funktion des menschlichen Seins und Miteinander-Seins definieren. Sein und Miteinander-Sein fokussiert eben nicht auf die Begegnung von „Machern“, die unter der Herrschaft der Vorstellungen und Programme des Verstandes ein bestimmtes Leistungspensum abarbeiten, um später dafür durch Orgasmus oder Komplimente „belohnt“ zu werden, sondern deutet auf einen Raum, in dem das Aufeinander-Bezogen-Sein im Vordergrund steht, die Beziehung und Verbindung zweier Herzen, wie sie im Augenblick des Hier und Jetzt sich ausdrückt und gestaltet.

Was in diesem Raum geschieht, dafür gibt es biologisch-energetische Anlagen des „menschlichen Tieres“ in uns allen, die allerdings solange nicht erfahren werden können, wie die Kontrolle des leistungsorientierten Verstandes und seiner Programme dominiert. Hingabe, die Wiederherstellung des Urvertrauens in die bio-energetische Natur des Seins, kann in der sexuellen Liebe zur Voraussetzung werden, in der die Bedeutungskonstrukte des Gehirns verblassen und sich das Tor zu dieser tieferen Wahrheit in uns weit öffnet.

(Fortsetzung folgt)

Montag, 21. Dezember 2015

SEINSORIENTIERTE KÖRPERTHERAPIE (46): Die andere Geschichte des Sündenfalls



Halten wir fest: Eine in oben beschriebenen Sinne geschlechtsunabhängige sexuelle Hingabe bezieht sich darauf, offen zu sein für etwas, was körperlich und seelisch angerührt wird, offen zu sein für das, was sich ausdrücken will, was da sein will. Spontane vegetative, bio-emotionale Impulse und Reaktionen, klonische Zuckungen, Strömungsempfindungen jeder Art sind weder pathologisch noch beunruhigend, weder im eigenen Organismus noch in dem des Sexualpartners.

Im Gegenteil, all diese lebendigen Impulse wollen sich zu reflexartigen Abläufen (dem Orgasmusreflex, s. o.) verbinden. Sie entsprechen eigenen biologischen Gesetzen, münden ein in vielfältige Formen des körperlichen und seelischen Liebeserlebens, bis hin zu ekstatischem, orgastischen, kosmischen Erfahrungsdimensionen, verebben in lustvollem Verströmen …… ohne dass das Denken kontrolliert, narzisstische Selbstinszenierungen oder zwanghafte Phantasien die Hingabe an diese Vorgänge verhindern.

So wie die Erregungsströme ein Phänomen der Wechselseitigkeit zwischen den Liebenden repräsentieren, dürfen wir auch diese vegetativen Vorgänge als einen wechselseitigen Prozess ansehen, als einen Naturprozess, in dem sich die Wellen zwischen den Liebenden hin- und her bewegen, dem Höhepunkt zusteuern und schließlich in einer postorgastischen Trance verebben.
So oder in ähnlicher Weise könnte die Natur – wie in der Tierwelt – die biologischen Instinkte, die Naturvorgänge in uns bereitstellen.

Der aus der Schöpfungsgeschichte bekannte Begriff des Erkennens („ Adam und Eva erkannten sich“), der im Hebräischen Original auch eine sexuelle Bedeutung besitzt, erfährt hier eine Konkretisierung: Zu erkennen gilt es die animalische Natur in sich selbst und im anderen Geschlecht, eine Erkenntnis, frei von Angst und Scham, frei von der Kontrolle durch den Willen und den Verstand, ein Erkennen der natürlichen Grundlagen des lebendigen Seins.


Die andere Geschichte des Sündenfalls von Adam und Eva, die andere Geschichte von der Vertreibung aus dem Paradies lautet wie folgt: Am Anfang steht das Erschrecken über die eigene Nacktheit, es ist das Erschrecken und Erkennen der eigenen Natur. Hier finden wir die Geburtsstunde der Instanz des beobachtenden und kontrollierenden Verstands. Verstand und Scham über die animalische Natur sind funktionell identisch.

Damit einher geht der Verlust der unmittelbaren erotisch-animalischen Anmut: Der Sündenfall Adam und Evas ist möglicherweise in Wahrheit in der Verleugnung und Kontrolle des animalischen Erbes zu orten. Der damit verbundene  evolutionsgeschichtliche Irrweg, hat uns an jenen Punkt geführt, an dem wir uns heute befinden: Entfremdet von der Natur in uns und entfremdet von der Natur um uns herum.

Oder, um es in den visionären Worten Wilhelm Reichs am Ende seines Buches Charakteranalyse (sinngemäß) auszudrücken: „Das ist unsere große Verpflichtung: Das menschliche Tier ins uns zu erkennen und nicht mehr davor fortzulaufen, sondern uns dessen zu erfreuen, was wir jetzt so sehr fürchten.“

(Fortsetzung folgt)

Freitag, 18. Dezember 2015

SEINSORIENTIERTE KÖRPERTHERAPIE (45): Sexuelle Liebe als Kategorie des Seins


Der Orgasmusreflex pflegte typischerweise in den Endphasen von Reichs  körpertherapeutischen Behandlungen aufzutreten. Auf dem Hintergrund seiner Beobachtung, dass der „normale Neurotiker“ als Pendant seiner neurotischen Charaktermuster entsprechende körperliche Blockaden (die sog. „segmentale Panzerung“) aufweist, interpretierte Reich das Auftreten des Orgasmusreflexes in der körpertherapeutischen Arbeit als Hinweis darauf, dass diese Blockaden im Verlaufe der körpertherapeutischen Arbeit erfolgreich aufgelöst worden waren.

Wesentlich erscheint mir hier die Entdeckung Reichs, dass es in der Tiefe unserer biologischen Existenz reflexartige, unwillkürliche vegetative Vorgänge gibt, über deren Bedeutung bis heute wenig bekannt ist.

So wie die Lustwellen des Säuglings beim Stillen („oraler Orgasmus“) in unserer diesbezüglich unwissenden Kultur teilweise pathologisiert und mit Medikamenten behandelt werden, so liegt auch der Verdacht nahe, dass vieles, was als vegetative Spontanbewegungen in der erwachsenen Sexualität auftreten kann, eher mit Stirnrunzeln oder Scham betrachtet wird denn als Ausdruck einer natürlichen und lebendigen Sexualität.

Auf diesem Hintergrund möchte ich eine Betrachtungsweise der genitalen Sexualität zu Diskussion stellen, die eine andere Perspektive als die gewohnte gehirndominierte Sichtweise beinhaltet: Was wäre, wenn der Gemeinplatz, dass Sexualität im Gehirn stattfindet, nur der Ausdruck einer langen kulturellen Domestizierung des Menschen repräsentiert? Diese Spaltung von Gehirn und Herz, von Gedanken und Gefühlen, von Bewusstsein und Biologie stellt nur eine Verzerrung der biologischen Potentiale des Menschen dar.

Ist es nicht naheliegend, dass sich in unserem Begriff von sexueller Liebe all jene historischen Traumata, gesellschaftlich-historischen Prägungen und körperlich-seelischen Programmierungen wiederfinden, die den modernen Menschen zu dem gemacht haben, was er ist: Ein, wie oben dargestellt, in seiner Liebes- und Lustfähigkeit eingeschränktes Lebewesen, das von den Wurzeln seiner biologischen Potentiale abgeschnitten ist. Die Folgen dieser Entfremdung finden sich in einer individuellen und kulturellen Wahrnehmungsverzerrung seiner eigenen Natur und derjenigen, dessen Teil er ist.

Betrachten wir die sexuelle Liebe als etwas, was auch jenseits der Steuerung und Kontrolle durch die Instanz des Gehirns und der kontrollierenden Gedankenwelt existiert, dann stellt sie sich nach den vorangegangenen Ausführungen als ein biologisches, instinktives und vor allem spontan vegetatives Geschehen dar, was im körperlichen und emotionalen Erleben vollständig autonom ablaufen kann. In dem Sinne, dass sexuelle Liebe nicht „gemacht“ wird (d.h. vom Bewusstsein kontrolliert gesteuert), sondern geschieht, so ist sie nicht Kategorie des Tuns oder des Machens, sondern Kategorie des Seins.

(Fortsetzung folgt)