Der Orgasmusreflex pflegte typischerweise in den Endphasen von
Reichs körpertherapeutischen Behandlungen
aufzutreten. Auf dem Hintergrund seiner Beobachtung, dass der „normale
Neurotiker“ als Pendant seiner neurotischen Charaktermuster entsprechende
körperliche Blockaden (die sog. „segmentale Panzerung“) aufweist,
interpretierte Reich das Auftreten des Orgasmusreflexes in der
körpertherapeutischen Arbeit als Hinweis darauf, dass diese Blockaden im
Verlaufe der körpertherapeutischen Arbeit erfolgreich aufgelöst worden waren.
Wesentlich erscheint mir hier die Entdeckung Reichs, dass es
in der Tiefe unserer biologischen Existenz reflexartige, unwillkürliche vegetative
Vorgänge gibt, über deren Bedeutung bis heute wenig bekannt ist.
So wie die Lustwellen des Säuglings beim Stillen („oraler
Orgasmus“) in unserer diesbezüglich unwissenden Kultur teilweise pathologisiert
und mit Medikamenten behandelt werden, so liegt auch der Verdacht nahe, dass
vieles, was als vegetative Spontanbewegungen in der erwachsenen Sexualität
auftreten kann, eher mit Stirnrunzeln oder Scham betrachtet wird denn als
Ausdruck einer natürlichen und lebendigen Sexualität.
Auf diesem Hintergrund möchte ich eine Betrachtungsweise der
genitalen Sexualität zu Diskussion stellen, die eine andere Perspektive als die
gewohnte gehirndominierte Sichtweise beinhaltet: Was wäre, wenn der
Gemeinplatz, dass Sexualität im Gehirn stattfindet, nur der Ausdruck einer
langen kulturellen Domestizierung des Menschen repräsentiert? Diese Spaltung
von Gehirn und Herz, von Gedanken und Gefühlen, von Bewusstsein und Biologie
stellt nur eine Verzerrung der biologischen Potentiale des Menschen dar.
Ist es nicht naheliegend, dass sich in unserem Begriff von
sexueller Liebe all jene historischen Traumata, gesellschaftlich-historischen Prägungen
und körperlich-seelischen Programmierungen wiederfinden, die den modernen
Menschen zu dem gemacht haben, was er ist: Ein, wie oben dargestellt, in seiner
Liebes- und Lustfähigkeit eingeschränktes Lebewesen, das von den Wurzeln seiner
biologischen Potentiale abgeschnitten ist. Die Folgen dieser Entfremdung finden
sich in einer individuellen und kulturellen Wahrnehmungsverzerrung seiner
eigenen Natur und derjenigen, dessen Teil er ist.
Betrachten wir die sexuelle Liebe als etwas, was auch
jenseits der Steuerung und Kontrolle durch die Instanz des Gehirns und der
kontrollierenden Gedankenwelt existiert, dann stellt sie sich nach den
vorangegangenen Ausführungen als ein biologisches, instinktives und vor allem
spontan vegetatives Geschehen dar, was im körperlichen und emotionalen Erleben
vollständig autonom ablaufen kann. In dem Sinne, dass sexuelle Liebe nicht
„gemacht“ wird (d.h. vom Bewusstsein kontrolliert gesteuert), sondern geschieht,
so ist sie nicht Kategorie des Tuns oder des Machens, sondern Kategorie des Seins.
(Fortsetzung folgt)
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