Diese These machte ihn nicht gerade beliebt unter den Analytiker-Kollegen der damaligen Zeit. Selbst Freud betrachtete Reichs Annahme von der sexuellen Störung als Energiequelle der Neurose mit größter Skepsis, wohl fürchtend das Renommee seiner gerade am Beginn der gesellschaftlichen Akzeptanz stehenden Psychoanalyse.
Auch heute noch dürfte es eine unangenehme Erkenntnis sein,
dass nahezu alle Menschen, Männer wie Frauen an sexuellen Funktionsstörungen
leiden. Denn die Ubiquität sexueller Pathologie betrifft letztlich jeden, auch mich
als Autor dieser Zeilen und Sie als deren Leser. Keine angenehme Vorstellung,
oder?
Wahrscheinlich ist eine Vorstellung erträglicher, dass es
hier und da Menschen gibt, die sexuell „irgendwie“ nicht klar kommen,
vielleicht ist es sogar vertretbar, dass man die eigene Beschränkung in der
Sexualität wahrzunehmen und für sich zu akzeptieren bereit ist. Dass es jedoch kaum
jemanden geben soll, der ohne jede Störung oder Reaktionsbildung sexuell funktioniert,
das ist eine erschreckende These.
Wo bleiben da all die Helden, Idole, Vorbilder, Gurus? Wo
bleibt das Heroische, Vorbildhafte, Prominente, das wir bewundern und beneiden
im Anderen oder zumindest dort vermuten?
Was bleibt von einem Glücksversprechen, das überall
suggeriert und offenbar nirgendwo eingelöst wird?
Was würde all das das über unser
Leben, unsere Kultur sagen, wenn in der überwiegenden Anzahl der Betten das nackte
Elend und nicht das erfüllende Glück und die grenzenlose Ekstase vorherrschen?
Einer Kultur, die sich präsentiert, als kenne sie keinerlei
sexuelle Tabus, einer Kultur, die sich darin
spreizt, die Sexualisierung sämtlicher Lebensbereiche als probates Mittel der
Geschäftsmaximierung zu betreiben: „Sex sells“: In Gestalt einer Ästhetik, in
der perfekte nackte Körper oder deren Fragmente auf eine prägenitale endlose Vorlust,
aber nicht auf eine genitale endliche Lust verweisen.
(Fortsetzung folgt)
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen