Die Vorstellung, dass das genitale Erleben nicht getrennt
werden kann vom seelischen Erleben, klingt nicht so exotisch. Dass man die
sexuelle Liebe nicht so einfach vom seelischen Erleben trennen kann, haben wir
geahnt, ebenso, dass diejenigen, die dies mit scheinbarer Leichtigkeit
vollziehen können, in der Regel Bindungsängste oder Bindungsstörungen aufweisen
könnten.
Die Vorstellung, dass der Orgasmus selbst viel mehr ist als
die die triebhafte Entladung genitaler Lust, klingt schon eigenartiger. „Bewusstseinseintrübung“,
„unwillkürliche klonische Zuckungen“, „Hingabehaltung“, das sind Zuordnungen
Reichs, die auf einen bio-energetischen Vorgang verweisen, der weit über den
Bereich des Genitalen hinausgehen.
Reich erwies sich häufig als genauer Beobachter von
Naturvorgängen. Der Begriff „Bewusstseinseintrübung“ beschreibt, dass die
Kontrolle des Gehirns und der Gedankenmaschinerie im Augenblick des Orgasmus
gelockert oder weitgehend aufgehoben sein kann und dass dieses Phänomen ein
Hinweis auf ein tendenziell ganzheitliches orgastisches Erleben sein kann.
Damit nähert sich Reich der Vorstellungswelt des indischen Tantra, das ja die
sexuelle Liebe ganz allgemein als einen Weg zur Begegnung mit dem Göttlichen,
Kosmischen, mit der spirituellen Wahrheit in sich selbst und dem Sexualpartner
definiert hat.
Ohne über Tantra und die spirituellen Traditionen des Ostens
genauere Kenntnisse zu haben, näherte sich Reichs Phänomenologie der „Funktion
des Orgasmus“ einem metaphysischen Verständnis, ohne jemals die Basis eines
materialistisch-biologischen Grundverständnisses jemals explizit zu verlassen.
Denn was ist „Bewusstseinseintrübung“ anderes als jener
selige Augenblick von Stille und Frieden, von Einssein mit dem göttlichen
Augenblick und der Schöpfung an sich? Was anders als jene Erfahrungsdimension, die
in zahllosen spirituellen Traditionen erlebt und beschrieben wurden? Was ist
„Bewusstseinseintrübung“ anders als jener seltene Augenblick, in dem die
Maschinerie des zwanghaften Denkens zu Ruhe und Frieden findet? Jener Moment, in
dem der Verstand seine Kontrolle aufgibt und sich der machtvollen Wirklichkeit
unserer biologisch-seelischen Natur hingibt.
(Fortsetzung folgt)
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