Dienstag, 6. Dezember 2022

Wege zur Hingabe des Herzens

Der Orpheus-Mythos (3)

Foto von Peace,love,happiness auf Pixabay

Eine Fragestellung faszinierte mich vor allem: Welches Geheimnis, welche »Zauberkraft« wohnte der Gesangskunst des Orpheus inne? Nehme ich die Erzählung ernst, wie konnte Musik diese enormen Wirkungen auf Mensch, Tier und Götter ausüben? Was spielte sich zwischen Sänger und Publikum ab? Irgendetwas schuf den Vorschein von Elysium, jenen Götterfunken von Seligkeit. Der Mythos berichtet:

"(...) Begleitet von seiner Kithara ... oder Lyra pflegte Orpheus den Einzelgesang. In den Waldtälern ... versammelte er mit seinem Leierspiel Bäume und wilde Tiere um sich, Vögel und Fische kamen, ihm verzückt zu lauschen.
(...) Alles bislang Aufgeregte kam bei den Klängen seines Instruments zu friedlicher Ruhe, Steine, ja selbst Felsen und ganze Gebirge vermochte Orpheus in Bewegung zu setzen. So galt er manchen als Erfinder der Musik überhaupt, deren Zauberkraft sich alles gefügig macht." (Abenstein, Reiner (2005)

Lebendige Wesenheiten, Flora und Fauna, traten ein in einen Zustand des Lauschens, der faszinierten Stille, der »friedlichen Ruhe«. Steine hingegen, von Natur aus unbeweglich, setzten sich in Bewegung.

In beiden Fällen handelte es sich um radikale Transformationsprozesse. Entitäten verließen ihren gegebenen Seins- und Bewusstseinszustand, erweiterten ihn, wandelten ihn um. Lebendige Geschöpfe versanken in Trance, Steine begannen zu tanzen. Eindrucksvoll, was Orpheus mit seiner Kunst in der Schöpfung bewirkte!

Doch Vorsicht, man sprach hier nicht von einem beliebigen Gesang, sondern dem eines Ausnahmekünstlers, des Sängers, Lyrikers schlechthin. Was charakterisierte seine Gesangskunst, die solch eindrucksvolle Wirkungen zeitigte?

Verdichtete sich im Terminus »Unterwelt« neben der tradierten Bedeutung (Reich der Toten) das Element des »Unbewussten«, so legte der Mythos einen Schlüssel zum Verständnis orphischer Kunst in die Hand: Offenbar erreichte Orpheus nicht nur Wahrnehmung und Sinne seiner Zuhörer, sondern berührte in geheimnisvoller Weise ihr Unbewusstes.

War er doch in seinem Wesen ein Liebender. Was vermochte die Lebensenergie Liebe authentischer, direkter, umfassender auszudrücken als eine Gesangskunst, die ganz dem Herzen entsprang, gleichzeitig die Herzen der Zuhörer ergriff, sich mit ihnen verband, also eine »Herzensbindung« schuf?

Orpheus rührte nicht nur die Herzen seiner Zuhörer in der Oberwelt, selbst Zerberus, der zähnefletschende Wachhund zur Unterwelt, selbst die Götter, Hades und Persephone, konnten sich der Magie seiner Gesangskunst nicht entziehen, ließen sich von ihr ergreifen.

Das Herz, das heilige Organ der Lebensenergie Liebe, war stets bestrebt, sich verbinden, in jedem Blick, in jeder Berührung, in jeder Umarmung. Seine energetische Qualität bedurfte nicht einmal der physischen Existenz. Ihre Präsenz war erkennbar jenseits der Begrenzungen von Zeit und Raum. Zeigte sich das Herz des Künstlers in vollständiger Hingabe, rührte es die Zuhörer, ihre Bereitschaft, sich dieser Gegenwärtigkeit zu öffnen. Hier lag das Geheimnis, die Zauberkraft orphischer Gesangskunst in Beziehung zu seinem Publikum.

 (Fortsetzung folgt)

 

Samstag, 11. Juni 2022

Wege zur Hingabe des Herzens

Der Orpheus-Mythos (2)

Bild von W M Pank auf Pixabay
Damit offenbart sich Orpheus als Gesinnungsgenosse des Prometheus, variiert die Erzählung vom Zauberlehrling, in der die menschliche Grandiosität, die Fehlbarkeit seines Umgangs mit der Schöpfung aufscheinen.

Das Zusammenwirken des Mangels an Vertrauen in sein Herz und die Götter, sowie die rationalisierende Wirklichkeitskonstruktion (»sie ist nicht hinter mir«, »es ist nichts zu hören« etc.) lösen die (Zwangs-)Handlung jener Vergewisserung, aus der heraus sich Orpheus abrupt und gegen seinen Vorsatz umwendet aus.

So scheitert Orpheus auf vielfache Weise, zeigt sich zutiefst menschlich, definiert letztlich das Menschliche schlechthin:
•    in seiner Sehnsucht, den Tod zu überwinden;
•    in der unterschwelligen Ambition der Kunst, ein Stück Unsterblichkeit zu vergegenständlichen;
•    in der Sehnsucht, dass Liebe mächtiger sei als der Tod;
•    in dem Geist der Utopie [vgl. Bloch, Ernst (2018)] der Kunst, das Leben vorwärts zu träumen;
•    in dem Mangel an Vertrauen auf unterschiedlichen Feldern;
•    im Gefängnis seiner seelischen Schattenwelt, deren Wahrheit Eitelkeit und Grandiosität vergeblich zu kompensieren versucht.

Die Conditio humana bleibt dort zu verorten, wo Kunst und Leben auseinanderklaffen. Das Begnadete in der Kunst des Orpheus vermochte die Herzen aller Lebewesen, ja selbst der Götter zu berühren. Aber er selbst blieb begrenzt in seinen Möglichkeiten. Als es galt, das Göttliche seiner Kunst ins Leben zu transformieren, in Präsenz und Essenz der Lebensenergie Liebe zu sein, im Urvertrauen an das Sein den Weg ins Leben zu beschreiten, scheiterte er. Nur die vollkommene Hingabe an die Liebe, das Eins-Sein mit der Wahrheit des Herzens, hätte ihn in die Lage versetzt, den Tod zu überwinden. Die Liebe, die Orpheus in seiner Gesangskunst entfaltete, stieß an ihre Grenzen, als es darum ging, sie zu leben.
Dies alles lässt den begnadeten Künstler Orpheus menschlich erscheinen. Es schmälert keineswegs sein künstlerisches Potential. Es verweist auf die Kluft zwischen Kunst und Leben. Davon erzählt uns der Mythos. Die Lebensenergie Liebe, die in seiner Kunst aufscheint, steht im Gegensatz zu dem, was er ins Leben zu bringen vermag.

Das Elysium in der Kunst und im Leben, man ahnt es, sind und bleiben getrennte Welten. Orpheus, der genialste Musiker des Altertums, Sinnbild des Kunstschaffenden schlechthin, scheiterte, wie jeder Mensch nach ihm, daran, Kunst und Leben zu vereinen.

Eine Frage blieb offen: Welches Geheimnis, welche »Zauberkraft« wohnte der Gesangskunst des Orpheus inne? Wie konnte sie diese enormen Wirkungen auf Mensch, Tier und Götterwesen ausüben? Was ereignete sich zwischen Sänger und Publikum, schuf den Vorschein von Elysium, jenen Götterfunken von Seligkeit? Betrachten wir, was der Mythos darüber berichtet:

(...) Begleitet von seiner Kithara ... oder Lyra pflegte Orpheus den Einzelgesang. In den Waldtälern ... versammelte er mit seinem Leierspiel Bäume und wilde Tiere um sich, Vögel und Fische kamen, ihm verzückt zu lauschen.
(...) Alles bislang Aufgeregte kam bei den Klängen seines Instruments zu friedlicher Ruhe, Steine, ja selbst Felsen und ganze Gebirge vermochte Orpheus in Bewegung zu setzen. So galt er manchen als Erfinder der Musik überhaupt, deren Zauberkraft sich alles gefügig macht.[Abenstein, reiner (2005)]

Die lebendigen Wesen, Flora und Fauna, traten in einen Zustand des Lauschens ein, in einen Zustand faszinierter Stille, »friedlicher Ruhe«; die Steine hingegen, von Natur aus unbeweglich, setzten sich in Bewegung. Es handelt sich um Transformationsprozesse, bei denen diese Wesenheiten ihren gewohnten Seins- und Bewusstseinszustand verlassen, erweitern, umwandeln. Lebendige Geschöpfe versinken in Trance, Steine beginnen zu tanzen. Eindrucksvoll, was Orpheus in der Natur bewirkt!

(Fortsetzung folgt)

Samstag, 12. März 2022

 

Wege zur Hingabe des Herzens

Der Orpheus-Mythos (1)

Orpheus und Eurydice
ca. 1922 by Charles Ricketts, gemeinfrei
 
Der Mythos von Orpheus zählt zu jenen Erzählungen des Altertums, von denen eine eigenartige Faszination ausgeht. Insbesondere die Liebesgeschichte von Orpheus und Eurydike inspirierte im Laufe der Jahrhunderte zahllose Künstler. Es finden sich Dutzende von Opern, die diese Legende thematisieren, sie reichen von Monteverdi bis Philip Glass. (Eine vollständige Liste dieser Werke findet sich unter dem Stichwort »Orpheus-Opern« bei Wikipedia). Auch zahlreiche bildende Künstler nahmen sich dieses Sujets an.

Orpheus, der ‚Dunkle‘, ist seit der Antike zum einen Repräsentant der alles bezwingenden Macht der Musik, zum andern wagte er es im Vertrauen auf seine Kunst, allein in die Unterwelt hinabzusteigen, um seine Gemahlin zurückzuholen.(Abendstein, Reiner (2005), S. 165)

Orpheus brillierte als Sänger, der durch seine Kunst Menschen, Tiere und Pflanzen, ja selbst Steine zu bewegen vermochte. Eurydike, seine Frau, kam durch einen Schlangenbiss zu Tode. Orpheus, der sie über alles liebte, riskierte den Abstieg ins Totenreich. Er konnte Hades, den kalten Gott der Unterwelt, durch seinen Gesang so berühren, dass dieser gemeinsam mit seiner Frau Persephone dem Sänger eine einmalige Chance bot: Eurydike würde ihm auf den Weg zurück in die Oberwelt folgen, unter der Voraussetzung, dass er sich dabei um keinen Preis nach ihr umdrehte. In diesem Fall würde sie für immer in der Unterwelt bleiben.

Der Orpheus-Mythos thematisiert die tiefste menschliche Sehnsucht: die Überwindung des Todes. Gleichzeitig erzählt er vom Scheitern, von Vergeblichkeit, von der conditio humana.

Der Mythos demonstriert, dass die Götter ihre Pappenheimer kennen: Ihre Bedingung hatte es in sich, sie erwies sich als Aufgabe, die »Göttervertrauen« verlangte. Orpheus, der mit seinem Gesang selbst Gebirge in Bewegung zu setzen vermochte, fehlte dieses Vertrauen. Auf dem Weg nach oben, als er keine Schritte hinter sich hörte, wuchsen seine Zweifel ins Unerträgliche. Er drehte sich um, in diesem einen Augenblick begegnete er dem erschrocken-traurigen Blick Eurydikes und musste mitansehen, wie sie auf immer in der Unterwelt entschwand.

Was lehrt der Mythos?
 
Zunächst, dass es Orpheus an Vertrauen in das Versprechen der Götter mangelte. Sein Misstrauen obsiegte am Ende, die Vision, den Tod mithilfe der Kunst zu überwinden, wurde bitterlich enttäuscht.
Auch die Liebe des Orpheus zu Eurydike zeigte sich nicht stark genug, um sie ins Leben zurückzuführen. Gedanken und Bedenken des Verstandes siegten über seine Liebe.

Gleichzeitig mangelte es ihm am Kontakt zur Selbst-Essenz, der Klarheit in der Beziehung zur Stimme seines Herzens, dies es gebraucht hätte, um diese schwere Prüfung der Götter zu bestehen. Dem Sänger fehlte das Urvertrauen, das »blinde Vertrauen«, letztlich jene Präsenz, in dem die Stimme des Herzens entscheidender wirkt als die Gedankenmaschinerie des Verstandes.
 
Betrachtete man die Gefühlsebene, so stieß man schnell auf das Dunkle im »Dunklen« (Orpheus, der »Dunkle«, siehe oben), auf die Schattenwelt der Seele, die sich im Mangel an Vertrauen manifestierte: Vertrauen in das Wort der Götter, Vertrauen in die Stimme seines Herzens, Vertrauen in die Liebe, Vertrauen in das Selbst: Selbst-Vertrauen.
 
Dieser Mangel an Selbst-Vertrauen konstruierte und nährte eine Gedankenwelt, in der Zweifel und Misstrauen die Wirklichkeit vernebelten. Diese Gedankenwelt, diese Konstruktion, die sich aus dem Denken manifestierte, betraf sowohl die innere als auch die äußere Realität. Die innere, indem sie den Kontakt zur Liebe verschleierte, die äußere, indem der Ego-Verstand sich grandios erhob über das Wort der Götter, sich für klüger, wichtiger hielt.
 
(Fortsetzung folgt)

Freitag, 28. Januar 2022

 Wege zur Hingabe des Herzens

Das Elysium aus Leib und Seele singen

Annäherungen an das Phänomen
Diana Ankudinova (letzter Teil)


In der Präsenz von Körpersprache und Stimme von Diana Ankudinova scheinen jene archetypischen Qualitäten auf, die ich als »transpersonalen Herzcode« bezeichne. Gemeint sind damit jene Anteile des Selbst, die über die individuelle Persönlichkeit hinausgehen (»personaler Herzcode«). Unter dem »Herzcode« verstehe ich die über Zeit- und Raumgrenzen hinweg emittierten personalen oder transpersonalen Informationen, die sich mit anderen Herzen verbinden können. Subjektiv wird Dianas Reichtum an »transpersonalen Herzcode-Informationen« von den Kommentatoren als »schamanistisch«, »archaisch« oder »tribalistisch« interpretiert, spiegelt sich angeblich in der mehrstimmigen Qualität ihrer Gesangskunst.

Auf diesem Hintergrund kann sie als archetypische Göttinnengestalt, als archaische Gestalt weiblicher Schönheit, Hingabe und Kraft erscheinen, als die spirituelle und organismische Wahrhaftigkeit des Weiblichen, die Teil des kollektiven Unbewussten repräsentieren. In ihrem strahlenden Lächeln am Ende des Vortrags scheint nochmals jene weibliche Süße auf, die nicht nur den männlichen Zuschauer verzaubert.

Das Video von »Can’t Help falling in Love« hat innerhalb weniger Tage viele Dutzend der erwähnten »Reaction-Videos« erzeugt, die eines gemeinsam haben: Die absolute Begeisterung über Dianas Präsentation, aber auch Sprachlosigkeit, wenn es darum ging, die eigene Fassungslosigkeit dem Publikum zu erklären.

Noch ein paar ergänzende Bemerkungen zu den »Reaktoren«: Sie sitzen häufig da mit offenem Mund, hochgezogenen Augenbrauen, aufgerissenen Augen, stumm, nach Worten ringend, manche geben den Versuch auf. Andere erwachen nur langsam aus ihrer Trance, beenden ihre Aufnahme ohne weiteren Kommentar.

Was daran liegt, dass es offenbar keine Begriffe auf der technisch-musikalischen Ebene gibt, die ausreichen, um die Wirkung von Diana auf die Zuhörerinnen begreiflich zu machen. Es manifestiert sich in Formulierungen wie »nicht von dieser Welt«, »das gibt es nicht, das kann keine menschlichen Stimme sein« usw. Kurzum, den »Reactors« gehen die Termini aus, es ist amüsant zu sehen, wie manch Dampfplauderer unter ihnen um Worte ringt, denn die Reaktionen bleiben meist in der Sprachlosigkeit stecken, nur Mimik und Gestik überwintern. Diese zeigen Verzückung, Anbetung, in jedem Fall tiefe Berührung und Begeisterung. Häufige Worte lauteten »My God« oder »mesmerizing«.

»My God« bleibt, wenn der Verstand, all seine Worte und Erklärungen nicht mehr greifen. Es geschieht im Augenblick der Ekstase, der Verzückung, der emotionalen Erschütterung. Die Anrufung Gottes erwacht reflexartig, wenn jenseits aller Gedankenkonstrukte und Analysen, jenseits von Attitüde und Eitelkeit, nur die spirituelle Dimension bleibt.

Mit der in der englischen Sprache häufig benutzten Begrifflichkeit »mesmerizing« (übersetzt: »hypnotisierend«) hat es eine besondere Bewandtnis. Denn das Wort geht zurück auf Franz Anton Mesmer, der in diesem Buch weiter oben Erwähnung fand. (vgl. Kap. 4.10 Mesmer, Katharsis und Trance)

Es steht er symbolisch für eine energetische Betrachtung der Naturvorgänge, die das naturwissenschaftlich-analytische Modell, in ähnlicher Weise wie Wilhelm Reich (1897 – 1957) um eine ganzheitliche Dimension erweiterte. Der »animalische Magnetismus« von Mesmer, ebenso der »Orgon«-Begriff von Reich, bilden die westlichen Gegenstücke für den Lebensenergiebegriff anderer Kulturen, wie z. B. Prana, Ki, Chi, Mana, Wakan usw., in denen das Göttliche aufscheint. Sie öffnen damit das Tor zur geistigen Welt, zum Elysium, und genau das beschreibt das Phänomen Diana Ankudinova und ihre Gesangskunst: Sie öffnet das Tor zum Elysium.

Viele Menschen, die Diana erleben, verlieren im wahrsten Sinne für einige – selige – Augenblicke ihren Verstand, geraten sichtbar in einen Trancezustand.

Insbesondere, wenn man es gewohnt ist, mit dem Verstand neuen Erfahrungen zu begegnen, scheint die emotionale Intensität von Ankudinovas Gesangskunst die Ressourcen des jeweiligen Zuschauers zu überfordern. Dies löst eine Art »Schreckstarre« aus. Auf einer tieferen Ebene verweist dieser Prozess auf jene Dimension, in der die Denkmaschine, das Hamsterrad der Gedankenproduktion für einige Momente zur Ruhe finden. Augenblicke innerer »Gedankenlosigkeit«, wie sie durch Meditation oder in Trancezuständen angesteuert werden, erfrischen nicht nur das Gehirn, sondern »erleichtern« die Selbst- und Weltwahrnehmung von dem Zwang, für alles Analysen, Begriffe und Urteile parat zu haben. Nur Staunen, Verzückung und Versunkenheit bleiben.

Die Gesangskunst Diana Ankudinovas entstammt ihrer Gabe, sich auf der Bühne den Gefühlen ihres Herzens hingebungsvoll zu öffnen, ihnen authentisch Ausdruck zu verleihen. Damit berührt und bewegt sie jene transpersonalen Seelenanteile, die wir alle in uns tragen. Diana Ankudinovas verweist auf das Verbindende in den Herzen ihres Publikums. Sie erinnert uns daran, dass wahrhaftige Kunst dadurch sich in dieser Weise als Kunst des Wandels, der Veränderung, der Transformation gestaltet.


Sonntag, 2. Januar 2022

 Wege zur Hingabe des Herzens

Das Elysium aus Leib und Seele singen

Annäherungen an das Phänomen
Diana Ankudinova (7. Teil)

 

Dianas stimmliche Brillanz, die Fähigkeit, mit Leichtigkeit das ganze Spektrum stimmlicher Ausdrucksmöglichkeiten zu bedienen, von den leisen bis zu den machtvollen, von den tiefsten bis zu den höchsten Tönen und darüber hinaus zu tänzeln, bildet zudem einen wesentlichen Teil ihrer künstlerischen Klaviatur ab.

Augenfällig auch die weibliche Süße, die sie dabei ausstrahlt. Sie bildet einen eindrucksvollen Kontrast zu der ungebremsten Kraft, die in ihrem Gesang ertönt, sobald sie im Contralto den ganzen Körper als Resonanzraum inklusive ihrer erotisierenden »Beckenstimme« nutzt. (Die hohe weibliche Stimme zeitigt die gegensätzliche Wirkung, die Kopfstimme mit ihren hohen Tonlagen ist weit weg vom Becken und wirkt eher asexuell.)

Diana Ankudinova kann sich emotional dem vorgetragenen Lied vollkommen hingeben. Dies wird sichtbar, nachdem sie den Elvis-Song zu Ende gesungen hat und enthusiastischer Beifall aufbraust: Sie wendet sich vom Publikum ab, wischt sich eine oder mehrere Tränen aus den Augen; mit einer konzentrierten Geste, wie sie Frauen zu eigen ist, die ihr Augen-Make-up möglichst wenig in Mitleidenschaft ziehen möchten. Sind die Tränen echt oder handelt es sich hier um eine effektheischende Geste? Da es noch weitere Aufnahmen von Auftritten Dianas gibt, in denen ihre Tränen deutlich zu erkennen sind, gehe ich davon aus, dass sie auch in diesem Fall authentisch sind. Für mich spricht vieles dafür, nicht zuletzt die Persönlichkeit, die in ihrer Körpersprache aufscheint, dass ihr emotionales Erleben zu bedeutenden Teilen ein Mitfühlen und Miterleben reflektiert.

Außergewöhnlich ist, dass von Tonlage und Körpersprache Becken und Herz miteinander verbunden wirken. Dazu entströmt eine schier unbegrenzte Intensität ihrem Herzen, sie »lebt« ihre Lieder authentisch. Genau das spiegelt sich auch in ihren außergewöhnlichen stimmlichen Potentialen, über die sie zweifelsfrei verfügt. Ich vertrete nicht wie viele Kommentatoren die Auffassung, dass allein die technischen Kapazitäten ihrer Stimmanatomie und ihre außergewöhnliche Gesangstechnik dafür verantwortlich sind, dass man als Zuschauer mit Fassungs- oder Sprachlosigkeit reagiert, sich hypnotisiert, in einem Trancezustand findet oder einfach verzaubert ist. Was hinzukommt, ist Dianas Ankudinovas umfängliche seelisch-emotionale Hingabe an die Lieder, die sie singt. Sie erlebt die Lieder, die sie präsentiert und geht dabei völlig im Hier und Jetzt auf. Wir haben hier also einen Menschen vor uns, bei dem Präsenz und Bühnenpräsenz miteinander verschmelzen.

Lassen wir Diana Ankudinova selbst zu Worte kommen. In einer Instagram-Live-Übertragung, die auf YouTube abrufbar ist, beantwortete sie Fragen ihrer Fans. Dabei wurde ihr auch dir Frage gestellt, ob sie sich während ihrer Auftritte in einer Art Trancezustand befände. Ihre Antwort:

»Wenn ich auftrete, verfalle ich … in eine Art Trance, das stimmt ... Das heißt, die ganze Zeit, während ich auf der Bühne stand, war ich in einer Art Trance, ich erinnere mich an nichts, was ich getan habe, ich erinnere mich nicht, wie ich aussah, ich weiß nicht mehr, wie ich mich bewegt habe … Das ist eine Art Zustand des maximalen Eintauchens in den Song. Ich habe es immer, um ehrlich zu sein. Das passiert mir immer. Manchmal, sogar oft, nach solchen Momenten ist es schwierig, wieder in einen normalen Zustand zurückzukehren, weil du einfach deine Energie ausgibst, die du in dir drin hast.« (   https://www.youtube.com/watch?v=N_VNgXWidRI Autoren der Untertitel (deutsche Übersetzung): Alexander Korilow und Rüdiger Kriegsmann, Frage bei 34:58)

Es sind die authentische Präsenz des Herzens und die Präsenz der Authentizität der Herzenergie, die Hingabe, die darin aufscheint und, da es sich meist um Lieder der Liebe handelt, die darin erlebten Leidenschaften und Emotionen, die eine Liebende erfassen. Sie spielt nicht, sondern sie drückt Emotionen aus, die sie in ihrer »alten« Seele schöpft und sie tut dies in einer ungehemmten, hingegebenen Weise. Sie drückt das aus, was in allen Menschen gleichermaßen vorhanden ist: die Gefühle wie Schmerz, Sehnsucht, Zorn, Leidenschaft, Verzweiflung, Liebe usw.

Kommentatoren benutzen oft den Begriff »it was so crazy«. Die Wahrheit ist, dass das, was sie erleben, eigentlich normal ist, denn die Art und Weise, wie unsere Kultur Gefühle kanalisiert und zurückhält, stellt das eigentlich Verrückte dar, das, was die Welt verrückt macht und verrückt hält. Diana und jede große Gesangskunst konfrontiert uns mit der Wahrheit und der Macht der Gefühle. Sie bieten die Chance, die Beziehung zu den Gefühlen neu zu justieren, sei es auch nur in diesem einen seligen Augenblick des Zuhörens. Sie lädt ein, ein Stück inneren Wahrheit und Wahrhaftigkeit wiederzuentdecken.

(Fortsetzung folgt)