Denn in den Gefühlen, die im Gegenüber angesprochen wurden, ließ sich ein faszinierendes Phänomen beobachten: Dessen Unbewusstes nahm die Verletzlichkeit, die seelische Brüchigkeit, durchaus wahr, die die narzisstische Großartigkeit angestrengt zu verbergen versuchte. Sie sprach typischerweise Beschützerinstinkte an, mütterliche und väterliche Gefühle für das fragile, ungeliebte innere Kind. Ein Ego, das sich besonders eindrucksvoll präsentierte, löste den Hang aus, solchen unbewussten Impulsen des »Beschützenwollens« besonders und eindrucksvoll zu folgen.
Die Dynamik, die sich in diesen Übertragungsgefühlen manifestierte, die die Großartigkeit, die Macht des Narzissten untermauerte, stammte aus dem mitfühlenden Herzen des Menschen, aus dem Quell der unendlichen Energie der Liebe.
Es bezog die Wirkung auf seine Claqueure nicht aus der Stärke seines Egos, sondern aus der dahinter verdeckten unsäglichen Einsamkeit. Ironischerweise zeigte sich hier eine Kollusion, die ihren Protagonisten häufig verborgen blieb.
In der Gegenübertragung erweckte es den Eindruck, als ginge man auf Eis, das jederzeit einbrechen könnte. Im therapeutischen Kontext vermochte eine »falsche« sprachliche Formulierung aggressive Reaktionen »narzisstischer Wut« auszulösen. »Falsch« war ein Wort oder ein Satz dann, wenn er eine Wahrheit aussprach, die das falsche, fragile Selbst infrage stellte, bedrohte.
In der alltäglichen Kommunikation, auf der Ebene konventioneller Verhaltensmuster, dominierte ein unausgesprochenes »Rührmichnichtan«, bezogen auf das narzisstische Ego. Jeder Kratzer an dieser Selbst-Inszenierung erweckte den Eindruck eines potentiellen Konfliktherdes.
Repräsentierten Konventionen, übliche Umgangsformen etc. nicht ein stillschweigendes Übereinkommen, das Ego, das Bild, die Erzählung, die jemand von sich vermittelte, nicht infrage zu stellen? Denn das war »normal«. Und normal wollte jeder sein.
Es galt zu verhindern, das »Gesicht zu verlieren«. Die Maske. Die Ehre. Es gab Zeiten in unserer Gesellschaft, da duellierte man sich, war bereit, um seiner Ehre willen sein Leben zu opfern. Es gab Kulturen, die dafür Mord und Totschlag begingen (sog. »Ehrenmorde«). In allen Armeen dieser Welt spielte »Ehre«. Wobei nicht zu übersehen ist, dass sich hier ein patriarchalisches Wertemuster spiegelt, nach wie vor eine zentrale Rolle. Die Ehre des Mannes und ihrer Infragestellung stellt sich häufig als Phänomen seiner gesellschaftlichen Positionierung dar. Die Ehre der Frau konnotiert häufig die Sexualmoral (Jungfrauenkult, Keuschheitszwang vor der Ehe, Ehrbeschmutzung bei Untreue usw.) und die Familie (»Familienehre«).
Fiele die Maske, käme das Abgespaltene zum Vorschein: innere Unsicherheit, Begrenztheit, authentische Emotionen, ... Wahrheit. Es war um jeden Preis zu vereiteln, wollte man sich als »normal« definieren und entsprechend anerkannt werden.
So »verrückt« waren normale, durch Scham normalisierte Menschen? »Verrückt« erschien mir die Realität, verrückt vom Wesentlichen, von der bio-emotionalen Wahrheit. Die Maske, allein das, was sein sollte, herrschte. Nicht Wirklichkeit.
Diese Aussage gewann aktuell an symbolischer Bedeutung durch Corona. Beides, Maske und »Rühmichnichtan«, die hier präsentierten Vorgänge des Unbewussten, traten, wie manches, aus ihrem Schattendasein hervor.
Die Maske avancierte zum sichtbaren Accessoire des homo sociologicus. Dank Covid-19 erscheint es »normal«, sich maskiert durch’s Leben zu bewegen. Jeder sieht die Maske, sie bleibt nicht weiter verborgen.
Ihr Tragen wurde zum Element sozialer Bezogen- und Verbundenheit. Die Ablehnung, sie zu tragen, sich zur »Not«Wendigkeit zu bekennen, verweist auf ihr Gegenteil, die antisoziale, egozentrische Verweigerung. Hier zeigt sich das vorsintflutliche, potentiell dem Untergang geweihte, narzisstische Ego, ebenso anmaßend wie verloren, indem es nicht nur das Leben anderer Menschen, sondern auch das eigene auf’s Spiel setzt.
In ähnlicher Weise verhält es sich mit der unbewussten Botschaft des »Rührmichnichtan«. Corona hat sie aus dem Schatten treten lassen. Der zwischenmenschliche Graben, für den, wie wir sahen, bisher das Ego sorgte, erwuchs zur sicht- und fühlbaren Erfahrung. Soziale Distanz, eingepfercht im Gebot des »Rührmichnichtan«, wurde durch das Abstandsgebot zur unübersehbaren Realität, trat aus dem Schatten in die Sichtbarkeit des Bewusstseins. Die Risse im Beton durchdringt das frische Grün der Hoffnung.
(Fortsetzung folgt)