Sonntag, 19. Juli 2020

SEINSORIENTIERTE KÖRPERTHERAPIE (273): Das grandiose Ego und das verlorene Kind

Bild von Thomas Wolter auf Pixabay

Die alleinige Ausrichtung auf die äußere Welt erwies sich als fataler Irrweg. Er führte genauso wenig zur Heilung wie das lebenslange Bestreben, von den Eltern im Nachhinein die heilsame Liebe zu erfahren, die man in der Kindheit entbehrte.

Selbst bei denjenigen, die scheinbar auf alle Konventionen pfiffen, ließ sich dieser tiefsitzende, verzerrte »Schrei nach Liebe« vernehmen, diese ständige Suche äußerer Anerkennung, Bewunderung, Spiegelung. Der Adressat war ausgetauscht. Es war nicht mehr die Gesellschaft im allgemeinen, sondern  die Subkultur, der sich jemand zurechnete. Die ersehnte Heilung von Selbstentfremdung nährte ein weites Spektrum an Sekten, Fanatikern, Formen des Missbrauchs.

Ein anderes Merkmal narzisstischer Verhaltensmuster erregte meine Aufmerksamkeit: das Phänomen expliziter oder verborgener Grandiositätsphantasien. Was war der Antrieb, sich großartig in Szene zusetzen? Im üblichen Sprachgebrauch gab es für die offene Variante viele Beschreibungen: »Schaum schlagen«, »aufschneiden«, »angeben«, »prahlen«, »protzen«, »sich aufplustern« usw.

Das Selbstbild, das sich dabei präsentierte, erinnerte an Werbeclips. Sie versprachen Ideale, Superlative, Wundersames. Eine eindrucksvolle heile Welt, von der alle Beteiligten, Macher wie Zuschauer, Erzähler wie Zuhörer, längst wussten, wie verlogen sie war. Solche Heldenerzählungen spulten sich rund um die Uhr ab, in jedem Gespräch, in den Massenmedien, in der ubiquitären Werbung.

Ihre Funktion bestand darin, Erwartungen zu erfüllen, die einer idealen Wirklichkeit auf Seiten des Adressaten, die nach Anerkennung und Bewunderung auf Seiten des Erzählers. Hier fand sich eine typische Kollusion. Beide Seiten profitierten davon psychologisch, materiell zumindest eine, wie  es heutzutage bei den sog. »Influencer« zutrifft.

Schwieriger wahrzunehmen als die Marktschreier und Prahlhänse waren diejenigen, die in ihrer Selbstüberschätzung dezenter auftraten. Bei ihnen schien die Grandiosität verborgen im Inneren auf, zeichnete sich nur indirekt im Verhalten ab. Das Muster war das gleiche: Der Hunger nach Bewunderung, Anerkennung und Liebe verbarg sich hier hinter der Maske der Zurückhaltung, eine ideale Voraussetzung für Kollusionen mit dem offen grandiosen Gegenpart.(Derartige Kollusionen zeigten äußerst verbreitet. Man begegnete ihnen in der Partnerwahl, in jeder Art Gruppenprozessen, insbesondere in Sektenstrukturen, in der Politik, überall dort, wo Führergestalten fanatische Anhänger um sich scharen.)

Ich gewann den Eindruck, dass in all diesen Haltungen sich ein kleines, verlorenes, sich nach Liebe sehnendes Kind verbarg, das sich angestrengt groß(artig) machte, um sich seiner Existenz zu versichern. Sich aufzuplustern, um die bedingungslose Liebe der Eltern zu erfahren, erwies sich in ähnlicher Weise als vergebliche Liebesmüh‘ wie der Versuch, durch die Bewunderung durch andere seine eigene Selbstentfremdung zu überwinden.

Das narzisstische Ego setzte sich als Kompensationsmechanismus in Szene, als erfolgloser Heilungsversuch einer Seele, die sich in ihren verborgenen Tiefen überhaupt nicht großartig, selbstbewusst und stark empfand, sondern klein, unsicher und schwach.

Dazu passten die ausgeprägten Schutz- und Kontrollmechanismen, verknüpft mit Empfindlichkeiten gegenüber jeder Art von Kritik. In extremen Fällen erschien allein die Existenz anderer Sichtweisen, abweichender Vorlieben, ja des Fremden schlechthin, ausreichend, um Verunsicherung und Abwehr auszulösen. Sobald ein Hauch derartiger Botschaften herüberwehte, traten Abwehrmechanismen unterschiedlicher Couleur hervor: Halsstarrigkeit, rechthaberischer Trotz, Beleidigtsein, Beschimpfungen, Wutausbrüche, Rückzug, Kontaktabbruch, Überheblichkeit, Verachtung. Sie stellten nur einige Varianten dessen dar, wie Menschen in sozialen Zusammenhängen auf vermeintlich kritische Äußerungen reagieren.

Wirkten diese Reaktionsmuster auch kraftvoll: Fragilität, Schwäche, Verunsicherung waren hinter der martialischen Kulisse für den Außenstehenden spürbar. Verkleidungen dienten bereits in der Kindheit individuellen Heldenerzählungen, lösten ein Lächeln aus. Das Drama des erwachsenen Narzissten bestand hingegen darin, dass er die Rolle des Helden nicht mehr als Spiel, sondern in ernsthafter Verzweiflung und mit verzweifelten Ernst darstellte. Dies verstärkte den Eindruck der Fragilität der ganzen Aufführung, auch in der Gegenübertragung.

(Fortsetzung folgt)

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