Dienstag, 6. Dezember 2022

Wege zur Hingabe des Herzens

Der Orpheus-Mythos (3)

Foto von Peace,love,happiness auf Pixabay

Eine Fragestellung faszinierte mich vor allem: Welches Geheimnis, welche »Zauberkraft« wohnte der Gesangskunst des Orpheus inne? Nehme ich die Erzählung ernst, wie konnte Musik diese enormen Wirkungen auf Mensch, Tier und Götter ausüben? Was spielte sich zwischen Sänger und Publikum ab? Irgendetwas schuf den Vorschein von Elysium, jenen Götterfunken von Seligkeit. Der Mythos berichtet:

"(...) Begleitet von seiner Kithara ... oder Lyra pflegte Orpheus den Einzelgesang. In den Waldtälern ... versammelte er mit seinem Leierspiel Bäume und wilde Tiere um sich, Vögel und Fische kamen, ihm verzückt zu lauschen.
(...) Alles bislang Aufgeregte kam bei den Klängen seines Instruments zu friedlicher Ruhe, Steine, ja selbst Felsen und ganze Gebirge vermochte Orpheus in Bewegung zu setzen. So galt er manchen als Erfinder der Musik überhaupt, deren Zauberkraft sich alles gefügig macht." (Abenstein, Reiner (2005)

Lebendige Wesenheiten, Flora und Fauna, traten ein in einen Zustand des Lauschens, der faszinierten Stille, der »friedlichen Ruhe«. Steine hingegen, von Natur aus unbeweglich, setzten sich in Bewegung.

In beiden Fällen handelte es sich um radikale Transformationsprozesse. Entitäten verließen ihren gegebenen Seins- und Bewusstseinszustand, erweiterten ihn, wandelten ihn um. Lebendige Geschöpfe versanken in Trance, Steine begannen zu tanzen. Eindrucksvoll, was Orpheus mit seiner Kunst in der Schöpfung bewirkte!

Doch Vorsicht, man sprach hier nicht von einem beliebigen Gesang, sondern dem eines Ausnahmekünstlers, des Sängers, Lyrikers schlechthin. Was charakterisierte seine Gesangskunst, die solch eindrucksvolle Wirkungen zeitigte?

Verdichtete sich im Terminus »Unterwelt« neben der tradierten Bedeutung (Reich der Toten) das Element des »Unbewussten«, so legte der Mythos einen Schlüssel zum Verständnis orphischer Kunst in die Hand: Offenbar erreichte Orpheus nicht nur Wahrnehmung und Sinne seiner Zuhörer, sondern berührte in geheimnisvoller Weise ihr Unbewusstes.

War er doch in seinem Wesen ein Liebender. Was vermochte die Lebensenergie Liebe authentischer, direkter, umfassender auszudrücken als eine Gesangskunst, die ganz dem Herzen entsprang, gleichzeitig die Herzen der Zuhörer ergriff, sich mit ihnen verband, also eine »Herzensbindung« schuf?

Orpheus rührte nicht nur die Herzen seiner Zuhörer in der Oberwelt, selbst Zerberus, der zähnefletschende Wachhund zur Unterwelt, selbst die Götter, Hades und Persephone, konnten sich der Magie seiner Gesangskunst nicht entziehen, ließen sich von ihr ergreifen.

Das Herz, das heilige Organ der Lebensenergie Liebe, war stets bestrebt, sich verbinden, in jedem Blick, in jeder Berührung, in jeder Umarmung. Seine energetische Qualität bedurfte nicht einmal der physischen Existenz. Ihre Präsenz war erkennbar jenseits der Begrenzungen von Zeit und Raum. Zeigte sich das Herz des Künstlers in vollständiger Hingabe, rührte es die Zuhörer, ihre Bereitschaft, sich dieser Gegenwärtigkeit zu öffnen. Hier lag das Geheimnis, die Zauberkraft orphischer Gesangskunst in Beziehung zu seinem Publikum.

 (Fortsetzung folgt)