Montag, 30. Oktober 2017

SEINSORIENTIERTE KÖRPERTHERAPIE (202): Körpertherapeutische Gesellenjahre

Wilhelm Reich (1897 – 1957)
An meine 3-jährige Körpertherapie-Ausbildung in Skan bei Michael Smith schloss sich eine ebenso lange Assistenzzeit an und später ein Trainer-Training. Fast ein Jahrzehnt lang verbrachte ich meine Sommer in dem besagten Seminarzentrum bei Aix-en-Provence in Südfrankreich.

Rückblickend bleibt festzuhalten, dass ich während meiner Assistenzzeit typischerweise mehr über Körpertherapie lernte als in der Ausbildung selbst. Dafür sehe ich mehrere Gründe:
  • Ich hatte bereits mit einer eigenen körpertherapeutischen Praxis begonnen und fühlte mich deutlich vertrauter mit der Mattenarbeit als noch während meiner eigenen Ausbildung.
  • Ich profitierte auf diesem praktischen Erfahrungshintergrund weitaus mehr von den Erläuterungen Michaels zu seiner Arbeit in den Trainingsgruppen, in denen ich assistierte.
  • Michael selbst nahm seine Rolle als Lehrer intensiv wahr, d. h. in den Pausen und am Ende jedes Tages erläuterte er sein Vorgehen bei den einzelnen Sessions und Übungen. Er zeigte sich jederzeit offen für die Beantwortung der vielen Fragen seiner Assistenten.
Später, als ich selbst Trainings gab, blieb mir diese Vorgehensweise von Michael ein Vorbild für meinen eigenen Umgang mit Assistenten, wissend, dass der Boden des Lernens dort am fruchtbarsten ist, wo bereits auf eigene therapeutische Praxis zurückgegriffen werden kann.

Neben diesen Lernprozessen im Skan-Umfeld fühlte ich mich in den ersten Jahren als Körpertherapeut angezogen von anderen Schulen und Ansätzen. Etwa ab Mitte der 80er Jahre explodierte das Interesse an körperorientierter Arbeit in Deutschland. Mehr und mehr Schulen und Ansätze, die auf Reich zurückgingen und meist aus den USA stammten, fassten hierzulande Fuß.

Neben meinen Ausbildungen in Bioenergetik und Skan lernte ich bis Ende der 80er Jahre weitere neoreichianische (in diesen Jahren entstand auch der Terminus »neoreichianisch«, den meines Wissen Charles Kelley einführte in Abgrenzung zu den orthodoxen, in der Regel medizinisch ausgerichteten Schulen, die sich als die wahren Erben der Körpertherapie nach Reich betrachteten) Methoden kennen, wie z. B. Radix, Hakomi, Biodynamik, Biosynthese und die organismische Körpertherapie. Ergänzende körpertherapeutische Ansätze wie Polarity, Alexander-Technik, Feldenkrais-Arbeit, Rebirthing, Holotrophes Atmen, Cranio-sacral Therapie, Atemtherapie nach Ilse Middendorf und einige andere Ansätze, die in dieser Zeit auftauchten, lernte ich auf Workshops, Fortbildungen und im kollegialen Austausch mehr oder weniger ausführlich kennen.

Immer wieder faszinierten mich Gemeinsamkeiten und Unterschiede. Gerade aus anderen Ansätzen nahm ich Anregungen mit, die das Knowhow meiner eigenen Aktivitäten ergänzten. Hervorheben möchte ich z. B. die ausgeformte Augenarbeit der Radix-Schule, welche die Technik in diesem Bereich fruchtbar erweiterte. Ihr Gründer, Charles Kelley, ursprünglich Bates-Lehrer (William H. Bates gilt als US-amerikanische Pionier einer ganzheitlichen Augenheilkunde. Er entwickelte Methoden, Fehlsichtigkeiten über Augenübungen und veränderte innere Haltungen zu beeinflussen und zu verändern), verknüpfte dieses Wissen mit der reichianischen Arbeit.

Die Biodynamik, begründet von Gerda Boyesen, brachte das rezeptiv-weibliche und mütterliche Element ein. Gerda Boyesen erwies sich neben Eva Reich, auf die ich noch zu sprechen kommen werde, als eine der wenigen exponierten Frauen auf dem von Männern dominierten Feld reichianischer Körpertherapien.

(Fortsetzung folgt)

Samstag, 28. Oktober 2017

SEINSORIENTIERTE KÖRPERTHERAPIE (201): Al Baumann, Wilhelm Reich und die Theaterszene im New York der 50er Jahre


Reich selbst verfügte offenbar über einen reichen Fundus von kreativen und künstlerischen Potentialen, die lange Jahre im Hintergrund verborgen blieben hinter einer wissenschaftlichen Weltsicht. In den letzten Lebensjahren schien seine kreative Seite machtvoll zum Ausdruck zu drängen. Nicht nur sein bereits erwähntes Spiel auf der Orgel und die Beschäftigung mit Musiktheorie und Komposition, sondern auch die vielen Ölgemälde, die man im Museum vorfindet, weisen darauf hin. Er galt als Verehrer Vincent van Goghs und Edvard Munchs, bewunderte bei beiden das Gespür für die Darstellung der atmosphärischen Lebensenergie, des Äthers, des Orgon. Betrachtet man die Ölgemälde Reichs im Museum, wird schnell deutlich, dass er sich von ihren Naturdarstellungen in seinen eigenen Bildern stark inspirieren ließ.

Al Baumann zeigte sich nicht nur der klassischen Musik, sondern auch dem Theater intensiv verbunden. Von ihm hörte ich zum erstmals von Pionieren der Theatergeschichte wie Stanislawski und Lee Strasberg. Synergieeffekte, die sich im Umfeld von Reich und der Künstler- und Theaterszene in Greenwich Village, dem Method Acting und der New School for Social Research
ergaben, prägten spätere Weltstars wie Marlon Brando oder Walter Matthau. Eine ganze Generation von jungen Künstlern entdeckte damals Wilhelm Reich und seine lebensenergetischen Ansätze.

Baumann selbst verschmolz seine künstlerisch-lebensgeschichtlichen Prägungen mit der Reichianischen Arbeit zum sog. »Streaming Theatre«. Er verstand darunter eine Art Ich-Entäußerung und Inneres-Selbst-Darstellung, die ihre Wurzeln im »vegetativen Strömen« besitzen, wie Reich jenes Phänomen nannte, das man heute etwa als »Flow« bezeichnen könnte. Die Ausdrucksbewegungen des authentischen Selbst aus der Präsenz des Augenblicklichen stand im Fokus. »Streaming Theatre« erwies sich als ausgezeichnete Methode, um Präsenz zu üben, insbesondere vor einem Publikum.

Gern nutzte Al die energetische Identifizierung mit Tieren. In gewisser Weise ähnelte es den Ritualen indigener Völker, die sich körperseelisch stark mit einem Tier identifizieren, eins mit ihm werden und sich in ihrer Präsenz in dieses Tier zu verwandeln scheinen. Nicht der (schau)spielende Mensch, der imitiert, stand im Vordergrund, sondern die Haltung, mit allen phylogenetischen, archaischen Ressourcen aus den Tiefen des Selbst zu diesem Tier zu regredieren, es zu sein.

Der Ansatz von Al, den Prozess der Verlebendigung, der in der Körpertherapie auf der Matte stattfand, auf der Bühne des »Streaming Theatre« und dem damit verbundenen authentischen Selbstausdruck fortzusetzen, konnte in der Zusammenarbeit von Al und Michael zum festen Bestandteil der Skan-Arbeit gedeihen. Bis zum heutigen Tage wird es vom Skan-Trainer Loil Neidhöfer in Hamburg gepflegt und weiterentwickelt.

Emily Derr, Stimmtrainerin und Opernsängerin, verband das traditionelle klassische Stimmtraining mit energetischer Körperarbeit. Sie half mir, die Stimme als authentische Ausdrucksform nicht nur zu entdecken, sondern auch ihre Blockierungen in Körperhaltung und Körperausdruck zu erkennen und zu verändern. Sie zeigte, wie über Töne nicht nur emotionaler Selbstausdruck, sondern auch tiefe Trancezustände erfahrbar werden.

Als kultureller Höhepunkt dieser Aix-Wochen blieben sog. »living room concerts« in Erinnerung. Al Baumann saß am Klavier und Emily, barfüßig, voll weiblicher Süße, leger im leichten Sommerkleid, gaben klassische Arien und Lieder. Emilys wundervoller Gesang erklang in einer Umgebung, die alles andere als die gewohnte Steifheit des elitären Kulturverständnisses repräsentierte. In einer hellen luftigen Halle stand sie einfach da, umgeben von jungen Menschen, die auf dem Boden hockten oder sich auf Matratzen gefläzt hatten oder kuschelten.

Meine durch mein Elternhaus vorbereitete Liebe zur Oper erhielt durch diese intimen Konzerte den letzten Anstoß, die Faszination von Opern auf einer tieferen, energetischen Ebene neu zu erleben und wahrzunehmen. Insbesondere die klassischen italienischen Opern verstehen es ja meisterhaft, die Schwingungsmuster von Emotionen im Zuhörer in Bewegung zu setzen. Gewiss macht ein Teil dieser Anziehung aus, dass sie – künstlerisch – etwas ausdrücken, was Zuschauer und Zuhörer in sich selbst fühlen, aber nicht zeigen. Handelt es sich hier um einen an die Sänger delegierten Gefühlsausdruck in hochkultureller Verpackung? Dies könnte zumindest ein Teil der Faszination darstellen, welche die Opernmusik bis heute in unserer Kultur charakterisiert.

Die Sommerworkshops in Südfrankreich wirkten wie ein mehrwöchiges Festival gelebter Lebensenergie, der Kreativität, der Liebe. Getragen vom Geist schöpferischer Neugier, das Lebendige in sich selbst und zwischen den anderen zu entdecken und zu zelebrieren, vermochten sie die Verlebendigung des Einzelnen im »Stammesleben« zu erproben und zu verstärken.

(Fortsetzung folgt)

Mittwoch, 18. Oktober 2017

SEINSORIENTIERTE KÖRPERTHERAPIE (200): Al Baumann und der künstlerische Selbstausdruck in der Körpertherapie

Al Baumann (1919 – 1998)
Al Baumann gehörte in den 50er Jahren zu den wenigen, die Wilhelm Reich in dessen letzter Lebensphase hautnah erlebten. Damals siedelte Reich von New York nach »Orgonon«. Orgonon nannte er sein Anwesen in der Nähe von Rangeley/Maine, das heute als »Wilhelm-Reich-Museum« der Öffentlichkeit zugänglich ist.

Al kannte den inneren Kreis um Reich aus eigener Anschauung. Er sollte der Erste in der Reihe von Lehrern sein, die ich im Laufe der Jahre kennenlernte, welche Reich persönlich erlebt hatten, in denen sein Geist weiterlebte. Das verlieh Al in meinen gläubigen Augen jene Aura, die ihn zum "Jünger des Herrn" adelte.

Ich glaube, Al Baumann zählte etwa 66 Jahre, als ich ihn kennenlernte. Er trug einen eindrucksvollen weißen Bart, zeigte strahlende, wache braune Augen, mit denen er stets etwas verschmitzt in die Welt schaute. Al trug einen Piratenohrring in einem Ohr, was ihm jenen Hauch von Verwegenheit verlieh, die nicht so recht zu seiner Altersgruppe zu passen schien. Er sah wie jener Großvater aus, den sich ein aufrechter Reichianer wünschte: lebendig, humorvoll, präsent. Al konnte fesselnd erzählen und zahllose Anekdoten zum Besten geben. Seine Vertrautheit mit der Bühne ermöglichte es ihm, mit theatralischen Effekten, Pausen und Pointen seine Zuhörer dermaßen in dem Bann zu ziehen, dass die praktische Arbeit und Übung häufiger ins Hintertreffen geriet.
 
Al sah auf ein abwechslungsreiches Leben zurück, nicht nur, was seine Zeit mit Reich betraf. Er kam aus der Kunst, trat als professioneller Konzertpianist auf, hatte Tanz und Malerei studiert, u. a. bei Robert Motherwell.

Aufgrund einer beruflichen und persönlichen Krise nahm er 1948 Kontakt zu Reich auf, der damals in Künstlerkreisen hoch im Kurs stand. Reich verwies ihn an Simeon Tropp, einem seiner engsten Mitarbeiter. Der Meister führte die ersten und die abschließenden Einzelsitzungen mit Al selbst aus, den Mittelteil delegierte er an Simeon Tropp. Ein bemerkenswertes Vorgehen, das Reich eingeführt hatte und ihm ermöglichte, die Qualitätsstandards direkt an seinen Schülern zu überprüfen.
Al erzählte, dass er später Reich im Klavier- bzw. Orgelspiel unterrichtete. Als ich in den 80-er Jahren Orgonon, heute das Wilhelm-Reich-Museum, besuchte, bewunderte ich die ausladende Hammond-Orgel, die Reich besaß. Reich liebte es, das erzählte mir später seine Tochter Eva, während des Spielens sämtliche Fenster im Haus zu öffnen, um seine Musik mit der atmosphärischen Lebensenergie verschmolzen zu fühlen.

Eine weitere Anekdote, an die ich mich erinnere, betraf die Begegnung mit dem arabischen Dichter der Liebe, Rumi. Al und Reich versuchten gemeinsam, Gedichte Rumis zu vertonen. Reich zeigte sich verwundert darüber, dass Al einen persischen Dichter des 12. Jahrhunderts nicht kannte. Was aus diesen Versuchen geworden ist, weiß ich nicht, aber Rumi sollte später in meinem Leben noch Bedeutung gewinnen. Damals wusste ich nicht, dass Rumi nicht nur ein ekstatischer Lyriker der Liebe, sondern auch als Sufi der ersten Stunde gilt.

Es gäbe noch viele wundersame Anekdoten, die mir in den Sinn kommen, weil Al sie faszinierend erzählen konnte. Sie alle stellten ein unterhaltsames Beiwerk für den Lernenden dar, beeindruckten den Suchenden in mir, der sich teilhaftig fühlen durfte an erzählter Geschichte, die sonst, wenn überhaupt, nur über Bücher zugänglich bliebe.

Mit Al und seiner Lebenspartnerin, der Opernsängerin Emily Derr, trat der künstlerisch-kreative Aspekt der Skan-Arbeit machtvoll hervor, ein Aspekt, der eine besondere Anziehung auf mich ausübte. Zudem kontrastierte er die vorherrschend naturwissenschaftlich-medizinische Reich-Auslegung, mit der ich mich häufig konfrontiert sah. Meine Künstlerseele erwachte mit Skan zu neuem Leben.

(Fortsetzung folgt)

Sonntag, 1. Oktober 2017

SEINSORIENTIERTE KÖRPERTHERAPIE (199): Das Vermächtnis von Skan

Foto: pixabay
In einem Interview, das Michael kurz vor seinem Tode 1989 gab, und das als Vermächtnis verstanden werden kann, fasste er die Essenz von Skan wie folgt zusammen (unveröffentlichtes Interview mit Michael Smith im Sommer 1989, Tonaufnahme im persönlichen Archiv, Übersetzung vkd):

»Was ich in Zusammenhang mit der Reichianischen Arbeit erfuhr, war, dass die meisten Menschen, die in die Therapie kommen, nichts über Beziehung wissen. Sie hatten niemals Beziehung, und wenn sie eine Beziehung hatten, dann war es eine sehr kurze Zeit in der Kindheit. Von daher verfügen sie nicht über diese bestimmte Qualität einer Sensivität, die sie im Herzen fühlen, wenn sie in Verbindung mit einem anderen Menschen sind. Dies ist häufig verknüpft mit dem Selbstbild, nicht wichtig für andere zu sein.

Sehr häufig teile ich meine Gefühle mit einer solchen Person in der Session, indem ich etwa sage ›hey, wie du über dich selbst sprichst, das tut mir in der Seele weh‹. Oft sind sie geschockt, sie haben nicht damit gerechnet, dass sich irgendjemand wirklich um sie bekümmert. Skan basiert auf dem fundentalen Prinzip des Lebens, das lautet ›wir sind in Beziehung‹, wo immer wir auch sind, sind wir in Beziehung.

Was bringt es denn, wenn du 50 Sessions lang Reichianische Körpertherapie machst, wenn du nicht diese Liebe, die in dir erwacht, in die Welt bringst? So bleibst du doch weiterhin in der Falle deines eigenen Narzissmus gefangen.

So wie ich Reich verstanden habe, geht es darum, ein wahrhaftiges Bild des Universums zu finden, und das beginnt im Herzen. Alles, was wir tun, ist, diesem wahrhaftigen Bild näher zu kommen. Das bedeutet, wir machen Fehler. Dann gibt es Glaubenssätze, die in Wahrheit unsere Panzerung sind, und unsere Prinzipien, die in Wahrheit unsere Panzerung sind, all diese fallen weg, wenn sie nicht mehr funktionieren, wenn sie im Leben nicht mehr kreativ wirken, sondern Stagnation erzeugen.

Das erste, das ich in meiner Arbeit mit Menschen versuche, ist, sein Herz in Bewegung zu bringen, und das Sehen mit dem Herzen. Wenn es geschieht, setzen Strömungsempfindungen im Kopf ein, der Kopf hebt an zu schmelzen. Das sind die beiden wichtigsten Faktoren in der Körpertherapie für mich, dass du den ›Kopfhelm‹ absetzen kannst, dass dieser Kopf weicher wird und man zu fühlen beginnt.

Dann beginnen wir zu begreifen, wie empfindsam und gleichzeitig wie stark wir eigentlich sind. Zweitens, dass wir im ganzen Körper strömen können und mit dem ganzen Körper fühlen und wahrnehmen und nicht nur mit den Augen und dem Gehirn ...«

Dieser kurze Text zeigt, dass Michael Smith die Wahrheit im Herzen fühlte und suchte und gleichzeitig die Panzerung des Ego-Verstandes wahrnehmen konnte. Sein körpertherapeutischer Ansatz, den er in diesem Verständnis lehrte, enthielt im Kern viele jener Elemente, die mein vorliegendes Buch detailliert und umfänglich in den Mittelpunkt stellt.

(Fortsetzung folgt)