Freitag, 31. Mai 2019

SEINSORIENTIERTE KÖRPERTHERAPIE (261): Kabir und der göttliche Augenblick

Foto: vkd
Der Mystiker Kabir lebte und lehrte im 14. Jahrhundert in Indien. Eines löste zugleich meine Neugier aus: Kabir sah sich als Vertreter einer einzigen, allumfassenden Spiritualität. Endlich jemand, der über den Tellerrand schaute.

Kabir wuchs in einer Moslemfamilie auf. In seiner Jugend wurde er Schüler des bekannten hinduistischen Asketen Ramananda, einem Vorreiter der mystischen Erneuerung gegen die intellektualisierte Lesart der damals vorherrschenden vedischen Philosophie. Später entdeckte Kabir die berühmten persischen Mystiker des Sufismus wie Rumi und Hafiz, beschäftigte sich auch mit jüdischen und christlichen Quellen.

Wie bei Ibn Arabi und Rumi bevorzugte Kabir die Poesie als Ausdrucksform seiner Seele. In ihr vereinigten sich alle spirituellen Einflüsse und Erhellungen. So verwundert es nicht, dass nach Kabis Tod 1518 Angehörige verschiedener Religionen ihn zu dem Ihren erklärten. Der Legende zufolge reklamierten Hindus, Moslems und Sufis Kabir für sich. Bei seiner Beerdigung gab es bereits den ersten Streit unter den Gläubigen. Klingt hochmodern.

In ihrer Mehrheit vermögen es viele Menschen offenbar nicht zu ertragen, wenn sich weiser Mann oder ein spiritueller Lehrer solcher Strahlkraft nicht zuordnen, kategorisieren, etikettieren und einvernehmen lässt. Dieses Phänomen kennen wir aus dem Neuen Testament, als Jesus sich mit den Pharisäern und Schriftgelehrten auseinandersetzte. Es wirkt im Fundamentalismus, Dogmatismus, in Orthodoxie und Scholastik jeder Lesart fort, sei es im eigentlichen spirituellen Kontext, sei es auf Schauplätzen der Politik, Wirtschaft, Wissenschaft. Es scheint, als seien die Freiheit und Grenzenlosigkeit einer Wahrheit, in dem das Verbindende und nicht das Trennende im Vordergrund steht, unerträglich. Ebenso unerträglich, wie die Energie der Liebe, die das Sein verbindet und hier anklingt.

Auf der physischen Ebene wird die unmittelbare Erfahrung vollkommener Einheit wahrnehmbar als kosmische Energie, die alles durchdringt, alles bewegt. Wilhelm Reich nannte sie „Orgon“. Auf der psychischen Ebene mystischer Erfahrung erscheint sie als die alles verbindende Energie der Liebe.

Die Ebene des Ego-Verstands hingegen kleidet diese unmittelbaren Wahrnehmungen in Worte, Begriffe, Gestalten und Gestaltungen. Gott, die Engel, der Teufel, Himmel und Hölle, das Wunder des Seins wird zergliedert in eine Welterfahrung, in der Figuren, Kategorien, Gesetze und Worte herrschen, Abstraktionen und Gestaltungen der Energie der Liebe. „Ihr bringt mir alle Dinge um. Die Dinge singen hör ich gern.“ (Rilke)

Kabir sah und beschrieb deutlich die „Entfremdung“ des Menschen von  seiner wahren Natur, die Liebe und Freude ist und in seiner unmittelbare Verbindung zur Schöpfung und zu Gott aufscheint.
Kabir kritisierte nachdrücklich die „Religion der Äußerlichkeiten“, welche Frömmigkeit zur Schau stellte, was er in der Bilderverehrung, dem Ritualismus, in der Zurschaustellung des Yoga und der Askese aufscheinen sah.

Die Nacktheit der „himmelsbekleideten Jainas“, die Aufmachung und Ockerroben der Mönche und Yogis verspottete er, weil diese Äußerlichkeiten kaum die Erkenntnis der Wahrheit förderten. (Mit seinem langen Bart erinnert er (der Yogi) an einen Ziegenbock ...“(Kabir 2006, S. 18 ff., Vorwort von Shubhra Parashar)

Kabir gilt heute als einer einflussreichsten Dichter Indiens und als bedeutender Mystiker, dessen Wirkung weiter anhält.
Das folgende, errstaunlich aktuelle Gedicht, gibt einen Einblick in die Lehre Kabirs:

Ich bin an deiner Seite
Wo nur suchst du mich?
Schau hin! Ich bin an deiner Seite.
Ich bin nicht im Tempel,
nicht in der Moschee.
Ich bin nicht in der Kaaba
und nicht am Kailash.
Ich bin nicht in Riten und Zeremonien,
nicht in Yoga und Entsagung.
Wenn du ein wirklicher Sucher bist,
dann erblickst du mich in diesem Augenblick –
du begegnest mir in diesem Moment.
Kabir sagt:
›Gott ist der Atem allen Atems‹

(Fortsetzung folgt)
 

Montag, 22. April 2019

SEINSORIENTIERTE KÖRPERTHERAPIE (260): Rumi und die Melodien der Sehnsucht

foto: pixabay
Die Anziehung, die Rumi ausübt, scheint ungebrochen. Dieser Mystiker-Poet, glückselig, ekstatisch, trunken von der Energie der Liebe, berührt bis zum heutigen Tage zahllose Menschen, die seiner Poesie begegnen. Wie vermögen ein paar Worte eine solche Wirkung auszuüben?

Sie sprechen Wahrheit aus, aus der Tiefe des Herzens, berühren sie im Leser, lassen sie anklingen, bewegen, sich regen. Wahrheit, die, unabhängig von Zeit und Kultur, Menschsein ausmacht: das Erkennen der Natur, der Kraft und der Energie der Liebe.
 
So leben Tiefe und Weisheit dieser Poesie aus längst vergangenen Tagen bis heute. Ibn Arabis und Rumis Lyrik wirken zeitlos. Sie geben Zeugenschaft über die ureigensten Themen der Seele: Spiritualität und Liebe. Sie widmen sich ihnen auf der Ebene der direkten, ekstatischen, grenzenlosen Gotteserfahrung. Nicht fein ziselierte Wortspielereien oder intellektuelle Architekturen aus Metaphern, Rhythmen und Reimen bilden die Anziehung, die ihre Poesie ausübt, sondern die Versprachlichung menschlichen Seelenlebens in seiner spirituellen Tiefe.

Nicht die die Form, die Wahl der Worte, sondern die Inhalte selbst sind es, welche die Faszination dieser Poesie ausmachen. Sie erreichen uns aus der Tiefsee der menschlichen Seele, berühren sie im Du, bringen sie und ihre Sehnsucht zum Klingen. Die Liebe, die Rumi besingt, ist nicht die personale, sondern die transpersonale, nicht die bedingte, sondern die bedingungslose, allumfassende, göttliche Liebe:

Neunte Ghasele

Tritt an zum Tanz! Wir schweben
In dem Reihn der Liebe,
Wir schweben in der Lust
Und in der Pein der Liebe.
Der ew’gen Liebe Botschaft
Hört‹ ich von dem Tode,
Dass Gott den Tod getränkt
Im Lebenswein der Liebe.
Die Kraft der Liebe löste
Leise mir den Nabel,
Als Mutter Liebe mich
Gebar ins Sein der Liebe.
Ich frug die Liebe: Wie
Soll ich der Lieb‹ entgehen?
Sie sprach: Ohn‹ Ausgang ist
Der Zauberhain der Liebe.
Der Liebe Zauberspiegel
Strahlet Weltgestalten,

Der Blick verirrt sich
In den Schilderein der Liebe.
Gib deinen Leib wie Gold
In Liebe’s Läutrungsschmerzen;
Denn Schlack‹ ist Gold, das nicht
Die Glut macht rein der Liebe.
Ich sage dir, warum
Das Weltmeer schlägt die Wogen:
Es tanzt im Glanze
Vom Weltedelstein der Liebe.
Ich sage dir, wie aus dem Ton
Der Mensch geformt ist:

Weil Gott dem Tone blies
Den Odem ein der Liebe.
Ich sage dir, warum
Die Himmel immer kreisen:
Weil Gottes Thron sie füllt
Mit Wiederschein der Liebe.
Ich sage dir, warum
Die Morgenwinde blasen:
Frisch aufzublättern stets
Den Rosenhain der Liebe.
Ich sage dir, warum
Die Nacht den Schleier umhängt.
Die Welt zu einem Brautzelt
Einzuweih‹n der Liebe.
Ich kann die Rätsel alle
Dir der Schöpfung sagen,

Denn aller Rätsel Lösungswort
ist mein, der Liebe.

Rumis Poesie verweist auf jenen erleuchteten Zustand, in welcher ein Mensch in vollendetem Kontakt mit der Essenz des Seins steht. Die Form tritt zurück hinter das Orchester der Worte. Ein Orchester, das eine Musik erklingen lässt, welche als »Musik Gottes« oder »Gesang der Engel« ertönt. Musik, die in den Tiefen der menschlichen Seele immer existierte und existiert, wird ohrenfällig. Es ist, als ob Rumi nur den Lautstärkepegel erhöht, schon hören wir Melodien in uns anklingen, die dort lautlos harrten: Melodien der Sehnsucht nach grenzenloser und formloser Liebe.

(Fortsetzung folgt)

Sonntag, 3. März 2019

SEINSORIENTIERTE KÖRPERTHERAPIE (259): Rumi und die zeitlose Wahrheit der Liebe

Foto: pixabay

Den Dichter Rumi erwähnte ich an anderer Stelle in Zusammenhang mit Al Baumann und Wilhelm Reich. Ich brachte in diesem Zusammenhang ihre Ambitionen zur Sprache, Gedichte von Rumi zu vertonen.

Obwohl ich mich seit meiner Jugend mit Lyrik beschäftigte, war mir Rumi bis zu diesem Erlebnis nicht bekannt. Naive Bewunderung für alles, was mit Wilhelm Reich zusammen hing, motivierte mich, mit Rumis Poesie in Kontakt zu treten.

Ich fühlte mich bei der ersten Begegnung hin- und hergerissen. Da erwachte atemlose Faszination für die klare, leidenschaftliche Sprachgewalt Rumis. Zudem kam eine verwirrende Erkenntnis zum Vorschein: Rumi hatte seine Poesie offenbar an einen Mann adressiert. Was bedeutete das? War der große Rumi etwa schwul? Ich empfand dies als befremdlich, es schien die Glaubwürdigkeit seiner Worte zu mindern. In meiner Naivität schwang eine latente Schwulenfeindlichkeit und das romantische Ideal der großen (aber bitte heterosexuellen) Liebe mit. Ich hatte nichts, überhaupt nichts begriffen. Vor allem nichts darüber, was Rumis Verständnis von Liebe betraf, das meilenweit von jenem aufschien, das sich aus dem Katechismus des Egos nährte.

Viele Jahrzehnte später ahnte ich, was in mir vorgegangen war. Die Poesie Rumis hatte zwar in dieser ersten Begegnung mein Herz berührt, jedoch mein Ego-Verstand wusste nichts Besseres, als das Geschehen sogleich zu kategorisieren, zu beurteilen, in eine Schublade zu stecken, großspurig zu etikettieren und diese für Jahre zu schließen.

Dabei ahnte ich nichts von der Essenz der Poesie Rumis und anderer Mystiker und insbesondere von ihrem tiefen Verständnis dessen, was man Liebe nannte. Ich war gefangen in jenen kulturellen Vorstellungen, die Sexualität, Spiegelung, Tauschwert und äußere Form für Liebe halten.

Das Leben von Rumi (1207–1273), bis dahin ein angesehener Gelehrter im türkischen Konya, wurde durch die Begegnung mit dem Wander-Derwisch Shams e-Tabrizi in seinen Grundfesten erschüttert und auf immer verändert. Offenbar fand er in ihm den Seelengefährten, der die Wahrhaftigkeit, Hingabe und Präsenz des Liebenden erblühen ließ und in ihm jenen spirituellen Poeten zum Vorschein brachte, den wir kennen und dessen Verse uns heute ebenso berühren wie die Menschen vor 800 Jahren. Die Strahlkraft seiner Poesie, wo anders lag ihr Geheimnis als in ihrer zeitlosen Wahrheit?

Ich fühlte mich fasziniert, ja überwältigt von der Schönheit und Weisheit in Rumis Versen. Die Klarheit der Worte ermöglichte einen visionären Blick in die Tiefsee der menschlichen Seele, in jene Welten, wo die Liebe im Dunklen wohnt. In meinem Herzen entfaltete sich eine Blüte, langsam, fast scheu, klar, und in ihr erwachte gleichzeitig eine Sehnsucht, die weiter reichte, wachsen wollte, die zog und dehnte. Eine Ausdehnung aller Sinne, eine essentielle Wirklichkeit, erzeugt durch Worte eines Mystikers und Poeten.

(Fortsetzung folgt)


Sonntag, 3. Februar 2019

SEINSORIENTIERTE KÖRPERTHERAPIE (258): Ibn Arabi und die Religion der Liebe

Sevilla, Foto: pixabay
Im Unterschied zu ihren christlichen Brüdern zogen sich die Sufis keineswegs aus Welt und Weltlichem zurück. Vielmehr trafen sie sich in regelmäßigen Zusammenkünften, vorwiegend einmal pro Woche, zu Ritualen, und zudem, um bei Meister praktische Ratschläge einzuholen. Kommt einem bekannt vor, heute würde man von einer spirituellen Selbsterfahrungsgruppe oder Sekte sprechen.

Schon damals, in den Anfängen, stellten die Sufi-Mystiker eine Minderheitsströmung innerhalb des Islam dar, im Volk bewundert und verehrt, von Theologie und Fundamentalismus verpönt und verfolgt.

»Bis heute sind die Sufis (neben den Schiiten) die Hauptgegner der salafistischen, von den Wahhabiten in Saudi-Arabien inzwischen weltweit propagierten, bis zu Selbstkarikatur strengen Glaubensrichtung. Als die Wahhabiten Ende des 18. Jahrhunderts erstmals massiv auf der arabischen Halbinsel auftraten, bestand eine ihrer ersten, im Lauf der weiteren Geschichte bis heute häufig wiederholten ikonoklastischen Handlungen in der Zerstörung der Gräber der Heiligen und Prophetengefährten.« (a. a. O., S. 16)

Von den Wahhabiten und der islamischen Orthodoxie gehasst und verfolgt und von manchen Sufis als der »größte Meister« verehrt wurde der Dichter Ibn Arabi (1165 – 1240). Er vertrat die Auffassung der »Einheit des Seins«, einer physischen Identität von Schöpfer und Schöpfung, vergleichbar mit den Vorstellungen Swedenborgs in unserer abendländischen Kultur.

Damit wich er nicht nur von den Auffassungen vieler Sufi-Traditionen ab, welche die Einheit mit Gott nur als Folge einer Auflösung des Egos, als Ergebnis des Dschihad ansahen, des inneren Kampfes gegen das niedere Selbst. Es ist aufschlussreich, dass der Begriff »Dschihad« von muslimischen Fundamentalisten in dieser eklatanten Weise uminterpretiert wird und als Legitimation für einen Krieg gegen die Feinde des von ihnen selbst repräsentierten wahren Glaubens missbrauchen. Dabei würde ein Dschihhad, verstanden als kontinuierliche Arbeit am narzisstischen Ego, ihrem Wahnglauben zweifelsfrei guttun. Gleichzeitig prädestinierte dies Ibn Arabi zum Angriffsziel all derjenigen Eiferer, welche wortwörtlich die Schöpfung durch Gott, wie sie im Koran gelehrt wird, zur einzigen Wahrheit erklärten.

Im Kern seiner Lehre strahlte eine einzige Aussage: Die höchste Form der Religion – jenseits von Judentum, Christentum oder Islam – bildet die Liebe, der man folgt, »gleich wohin ihre Karawane führt«. Ibn Arabi krönte die Liebe zur höchsten Gestalt menschlicher Religiosität und stellte sie in Gegensatz zu jeder Form von Orthodoxie oder Glaubensstringenz. In seiner Poesie vermischt er freizügig religiöse und pagane, islamische und vorislamische, spirituelle und erotische Motive.

Seine Kindheit verbrachte Ibn Arabi in dem von den Mauren eroberten Spanien, u. a. in Sevilla. Schon in jungen Jahren durchlebte er erste Erweckungserlebnisse und begab sich auf den Weg des Wandersufis, der ihn nach Mekka, Medina, Kairo, Hebron, Jerusalem, Bagdad, Damaskus, Aleppo und viele andere damals bedeutsame Orte führte. Dabei begegnete er den zu jener Zeit wichtigsten spirituellen Lehrern. Diese Zusammenkünfte thematisierte er in zweien seiner Bücher.

Ibn Arabi verknüpfte in Werk und Persönlichkeit zwei Seiten, die sich normalerweise in zwei unterschiedlichen Persönlichkeitstypen finden: Den Intellektuellen und Gelehrten mit einem breiten fundierten Wissen seiner Epoche und den ekstatischen Poeten der Liebe, den Künstler, den Charismatiker.
»...
welch wunder eine gazelle mit burka
die zwinkernd eine beere dir hinhält
gazelle die zwischen den rippen mir weidet
in einem garten von flammen
mein herz ist fähig alle formen
anzunehmen weide
für gazellen für mönche ein kloster
ein tempel für heiden für pilger
die kaaba der tora tafeln
und blätter aus dem koran
ich bekenne die religion der liebe gleich
wohin ihre karawane mich führt die liebe
ist mein glaube meine religion«

(Fortsetzung folgt)

Samstag, 26. Januar 2019

SEINSORIENTIERTE KÖRPERTHERAPIE (257): Mystiker, Sufis und die Poesie der Liebe

foto: pixabay
 "Finde die Süße in deinem eigenen Herzen,
dann findest du die Süße auch in anderen Herzen." (Rumi)

Mich berührten die Verbindung und poetische Ausformung von Gottes- und Herzerfahrungen, die sich in der Minne des Mittelalters ausdrückten und zur Blüte gelangten. Insbesondere die Beginen, wie oben beschrieben, zeigten sich erfüllt und hingegeben an ihre inneren Erfahrungswelten, scheuten sich nicht, sie in bisweilen überschwänglicher poetischer Sprache zu Ausdruck zu bringen.

Überhaupt erschien mir die Verbindung von spirituell-mystischer Erfahrung und künstlerischem Ausdruck fundamental. Musik, bildende Kunst und Poesie, welche anderen Gestaltungen vermögen inneres mystisches Erleben nur annähernd auszudrücken? War Kunst in ihrem gattungsgeschichtlichen Kern möglicherweise Ausdruck gelebter Gotteserfahrung, menschliche Gestalt und Gestaltung der Energie der Liebe?

Die Verbindung von Mystik und Poesie fand im Orient des Mittelalters seine höchste Blütezeit. Die Lyrik der Sufis kokettierte nicht mit formalen Fingerfertigkeiten auf der Ebene der Worte, sondern das Gedicht selbst repräsentierte das mystische Erfahrungsuniversum, zeigte sich als Abbild der in der Seele sich spiegelnden Seinserfahrung.

Bei den Sufis wurde Poesie traditionell mündlich vorgetragen, oft in Verbindung mit Musik. Die Ekstase der Gotteserfahrung, die Leidenschaft für Wahrheit und Liebe, sie fanden in ihr einen authentischen sprachlichen Ausdruck, spiegelten sie, machten sie erkennbar.

Ich begegnete im Laufe der Zeit manchen Poeten der Mystik des Mittelalters aus der islamischen Tradition, deren Reichtum überwältigte. Drei von ihnen Ibn’Arabi, Rumi und Kabir berührten mich tief und beeinflussten meine Beziehung zu Poesie und zu Mystik.

Die mystische Aneignung des Islam reicht weit zurück in die ersten Generationen nach dem Tode Mohammeds (571 – 632). Der Begriff sûf verwies auf ein grobes, aus Wolle bestehendes Kleid, das die Sufis trugen. Zunächst existierte eine asketische Strömung von mystischen Gottsuchern. Häufig lebten sie als Einsiedler, manche wurden vom Volk als Wunder wirkende Heilige verehrt. Kamen zu ihren Lebzeiten Anhänger und Schüler dazu, avancierten sie zu Gründervätern sufischer Orden.

Im Volk galten sie als Wissende, als Eingeweihte. Durch die Sufiheiligen wurde eine Brücke zwischen Gott und den Menschen geschaffen und in Wunder und Wunderheilung erfahrbar.

(Fortsetzung folgt)

Samstag, 12. Januar 2019

SEINSORIENTIERTE KÖRPERTHERAPIE (256): Mystische Hochzeit, Minne und die weibliche Hingabe an Gott

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Die zentralen Themen der Beginen waren die Minne, d. h. die allumfassende Gottesliebe, die geistliche Brautschaft und die mystische Hochzeit. In den Berichten, Briefen, Liedern, poetischen Texte von Frauen stehen das Fühlen und die Hingabe an die göttliche Beziehungserfahrung im Vordergrund, ekstatisch, glühend, leidenschaftlich.

Hier wurde deutlich, dass weibliche Spiritualität sich tendenziell von der männlichen Variante unterschied: Spielten in letzterer Vergeistigung, Versprachlichung und Singularität eine herausragende Rolle, so galt für die weibliche Variante Gegenteiliges: Die Spiritualität der Nonnen und Beginen präsentiert sich gefühls-, erlebnis- und beziehungsorientiert, wobei die Beziehung zu Gott überaus persönlich und häufig in intimer Zweisamkeit erlebt wurde.

Die Liebe zu Christus, die Liebe zu Gott drückte sich oftmals in erotischen Metaphern aus, wie in diesem Text der Mechthild von Magdeburg:

»O du brennender Berg, o du auserwählte Sonne,
o du voller Mond, o du tiefer Bronnen,
o unerreichte Höhe, o Klarheit sonder Maßen,
o Weisheit ohne Grund, o Milde ohne Minderung,
o Stärke ohne Widerstand, o Krone aller Ehren:
Dich lobt der Kleinste, den du je geschaffen hast!
O du gießender Gott an deiner Gabe,
o du fließender Gott an deiner Minne,
o du brennender Gott an deiner Sehnsucht,
o du inniger Gott an deiner Einung,
o du ruhender Gott an meiner Liebe –
ohne dich ich nicht am Leben bliebe.
...
Eia, Herre minne mich sehr,
und minne mich oft und lang!
Je öfter du mich minnest desto reiner,
je länger, desto heiliger
wird meine Seele schon auf Erden sein.«
( zit. nach Wehr, Gerhard (2006), S. 125)

Hier fand ich das Phänomen einer Spaltung zwischen Liebe und Sexualität, Genitalität und Herz, auf die ich später ausführlich zu sprechen kommen werde. Kennzeichnete unsere Epoche die Abspaltung der Sexualität von der Bindung zum Herzen, so repräsentierte die Minne des Mittelalters die umgekehrte Konstellation.

Als »alter Reichianer« urteilte ich schnell: Die Abspaltung und Unterdrücker sexueller Energie bei Nonnen oder Beginen, selbst wenn sie sie durch Selbstkasteiungen zu beherrschen suchten, führte zwangsläufig zu seelischen Exaltiertheiten, zum Leid.

Im nächsten Augenblick stutzte ich. Na, und? Wie schräg war das denn, aus heutiger Sichtweise diese Bestrebungen, diese Suche nach Gott zu beurteilen? Gingen die moderne Heiligsprechung der Vernunft und des Berechenbaren, die Sucht nach Kontrolle und die Selbstgefälligkeit unserer Zeit nicht vielmehr einher mit eklatanten Defiziten an Hingabefähigkeit, an Leidenschaft und Liebesfähigkeit? Hatten wir nicht eine ganze Menge zu lernen von unseren Ahnen in dieser Hinsicht? Galt es nicht, auch das Leid als Teil des Lebens bejahen zu lernen? Je mehr ich dem nachspürte, desto deutlicher wurde, dass sich in solcher Liebes- und Hingabefähigkeit an das Göttliche ein Schatz verbarg, den es mit Dankbarkeit und Demut aufzunehmen galt.

Die grenzenlose Hingabefähigkeit der Mystikerinnen des Mittelalters zog die Umwertung der Werte nach sich, indem sie – den Leidensweg Christi spiegelnd – das eigene Leid anzunehmen und bejahend in ihr Leben zu integrieren strebten. Die oben zitierte Mechthild von Magdeburg konstatierte:

»In meinem großen Leiden offenbarte sich Gott meiner Seele, zeigte mir die Wunde seines Herzens und sprach: Sieh, wie weh man mir getan hat. – Da sprach meine Seele: Ach Herr, warum leidest du so große Not, da so viel von deinem heiligen Blut vergossen ward? In deinem Gebete allein sollte doch schon alle Welt erlöst sein! – Er antwortete: Nein, meinem Vater genügte das nicht. Denn all diese Armut und Mühsal, alle Marter und Schmach, das alles war nur ein Pochen an der Himmelspforte bis zu der Stunde, da mein Herzensblut niederrann. Da erst wurde der Himmel aufgetan.«(zit. nach Wehr, Gerhard (2006), S. 133)
 
Wie ließ sich die Hingabefähigkeit an die Ganzheit des Seins treffender beschreiben? Erst in der Integration von Licht und Schatten, von Freude und Leid, erst in der Aufhebung der Gegensätze, der Dualitäten, wie sie uns ebenso in den östlichen Weisheitslehren begegnen, öffnet sich der Weg zum Himmel, zur allumfassenden Liebe in uns selbst.

(Fortsetzung folgt)

Sonntag, 6. Januar 2019

SEINSORIENTIERTE KÖRPERTHERAPIE (255): MystikerInnen, Hingabe an Gott und die Beginen

Hildegard von Bingen, wikimedia commons
Der Theologe, der Exeget, der Scholastiker, sie alle fahndeten nach Wahrheit auf der Ebene der Interpretation, der Analyse, des Verstandes. Mystiker suchten Wahrheit jenseits der analytischen Trennung von Subjekt und Objekt. Sie begaben sich unmittelbar in einen Prozess der Transformation, der Selbsterforschung und -veränderung. Der Gegensatz zur Mainstream-Theologie konnte nicht größer sein!

Der eine suchte Gott, um ihn zu betrachten und in das vorhandene Konstrukt des Ego-Verstandes einzubauen. Der andere suchte Gott, indem er sich in die Tiefen seiner Seele begab und aus dem Irrgarten des Ego-Verstands zu befreien versuchte.

Der eine delegierte die Suche nach der Wahrheit an die religiösen Experten und stärkte ihre Macht, und aus der Religion erwuchs die Kirche mit Bischöfen, Kardinälen und Inquisitoren.

Mystiker delegierten nicht, sie übernahmen selbst die Verantwortung für ihre Seele. Benötigten keine Kirche, »keinen Stellvertreter Gottes«, denn Gottsuche in sich selbst konterkarierte den kirchlichen Machtanspruch. Sie suchten nicht das religiöse »Wunder« in der äußerlichen Welt oder die theologische Brillanz des Bücherwissens, sondern das Innerste, das in der Welt der Seele erlebte Mysterium.

Der christliche Mystikers Johannes Tauler schrieb:
»Das Suchen, bei welchem der Mensch sucht, geschieht auf zweierlei Weise: Das eine Suchen des Menschen ist äußerlich, das andere innerlich (...) Das äußerliche Suchen, mit dem der Mensch Gott sucht, besteht in äußerer Übung guter Werke mancherlei Art, so wie sie der Mensch von Gott gemahnt und getrieben wird, wie er von seinen Freunden angewiesen wird, vor allem durch Übung der Tugenden, als da sind Demut, Sanftmut, Stille, Gelassenheit und andere (...)
Aber die andere Art des Suchens liegt weit höher. Sie besteht darin, dass der Mensch in seinen Grund gehe, in das Innerste und da den Herrn suche, wie er es uns selbst angewiesen hat, als er sprach: ‚Das Reich Gottes in in euch!‘ Wer dieses Reich finden will – und das ist Gott mit all seinem Reichtum und in seiner ihm eigenen Wesenheit und Natur –, der muss es da suchen, wo es sich befindet: Nämlich im innersten Grunde [der Seele], wo Gott der Seele näher und  inwendiger ist, weit mehr als sie sich selbst.«( zit. nach Wehr, Gerhard (2006), S. 108)

Wenn der Hingabe an und der Verschmelzung mit Gott das höchste Streben der christlichen Mystiker galt, so lag es nahe, dass es in der Breite dieser Bewegung nicht nur Männer, sondern insbesondere Frauen gab. Da zudem die mystische Erfahrung und nicht deren geistige Verschriftlichung im Vordergrund stand, fanden sich, von Ausnahmen abgesehen*, Zeugnisse weiblicher Protagonistinnen nur in verstreuter Form. Eine inwendige, erlebte Gotteserfahrung musste damals der weiblichen Natur tendenziell vertrauter erscheinen als die äußerliche, geistig-intellektuelle Herangehensweise von Scholastik und Exegese. Entsprechend war der Andrang von Mädchen und jungen Frauen auf das klösterliche Leben im Mittelalter immens, so dass die bestehenden Möglichkeiten des Klosterlebens bei weitem nicht ausreichten.

Auf diesem Hintergrund entstand die sog. »Beginen«-Bewegung. Frauen, denen die Aufnahme in eine Ordensgemeinschaft versagt war, fanden sich zusammen, um ohne klösterliche Strukturen freiwillig in Armut und Keuschheit zu leben. Diese Bestrebungen beobachtete die herrschende patriarchalische Kirche mit Argusaugen und nahm sie nicht selten zum Anlass von Inquisition und Ketzerbekämpfung.

(Fortsetzung folgt)

* Wie die berühmte Hildegard von Bingen, wobei der Anteil mystischer Erfahrungswelten in ihrem Gesamtwerk eher als gering einzustufen ist. Hildegard (1098–1179) war Äbtissin des Benediktiner-Ordens, katholische Heilige, Kirchenlehrerin, Heilkundige, Komponistin, Schriftstellerin und bereits zu Lebzeiten hoch geachtet.