Samstag, 12. Januar 2019

SEINSORIENTIERTE KÖRPERTHERAPIE (256): Mystische Hochzeit, Minne und die weibliche Hingabe an Gott

foto: pixabay
Die zentralen Themen der Beginen waren die Minne, d. h. die allumfassende Gottesliebe, die geistliche Brautschaft und die mystische Hochzeit. In den Berichten, Briefen, Liedern, poetischen Texte von Frauen stehen das Fühlen und die Hingabe an die göttliche Beziehungserfahrung im Vordergrund, ekstatisch, glühend, leidenschaftlich.

Hier wurde deutlich, dass weibliche Spiritualität sich tendenziell von der männlichen Variante unterschied: Spielten in letzterer Vergeistigung, Versprachlichung und Singularität eine herausragende Rolle, so galt für die weibliche Variante Gegenteiliges: Die Spiritualität der Nonnen und Beginen präsentiert sich gefühls-, erlebnis- und beziehungsorientiert, wobei die Beziehung zu Gott überaus persönlich und häufig in intimer Zweisamkeit erlebt wurde.

Die Liebe zu Christus, die Liebe zu Gott drückte sich oftmals in erotischen Metaphern aus, wie in diesem Text der Mechthild von Magdeburg:

»O du brennender Berg, o du auserwählte Sonne,
o du voller Mond, o du tiefer Bronnen,
o unerreichte Höhe, o Klarheit sonder Maßen,
o Weisheit ohne Grund, o Milde ohne Minderung,
o Stärke ohne Widerstand, o Krone aller Ehren:
Dich lobt der Kleinste, den du je geschaffen hast!
O du gießender Gott an deiner Gabe,
o du fließender Gott an deiner Minne,
o du brennender Gott an deiner Sehnsucht,
o du inniger Gott an deiner Einung,
o du ruhender Gott an meiner Liebe –
ohne dich ich nicht am Leben bliebe.
...
Eia, Herre minne mich sehr,
und minne mich oft und lang!
Je öfter du mich minnest desto reiner,
je länger, desto heiliger
wird meine Seele schon auf Erden sein.«
( zit. nach Wehr, Gerhard (2006), S. 125)

Hier fand ich das Phänomen einer Spaltung zwischen Liebe und Sexualität, Genitalität und Herz, auf die ich später ausführlich zu sprechen kommen werde. Kennzeichnete unsere Epoche die Abspaltung der Sexualität von der Bindung zum Herzen, so repräsentierte die Minne des Mittelalters die umgekehrte Konstellation.

Als »alter Reichianer« urteilte ich schnell: Die Abspaltung und Unterdrücker sexueller Energie bei Nonnen oder Beginen, selbst wenn sie sie durch Selbstkasteiungen zu beherrschen suchten, führte zwangsläufig zu seelischen Exaltiertheiten, zum Leid.

Im nächsten Augenblick stutzte ich. Na, und? Wie schräg war das denn, aus heutiger Sichtweise diese Bestrebungen, diese Suche nach Gott zu beurteilen? Gingen die moderne Heiligsprechung der Vernunft und des Berechenbaren, die Sucht nach Kontrolle und die Selbstgefälligkeit unserer Zeit nicht vielmehr einher mit eklatanten Defiziten an Hingabefähigkeit, an Leidenschaft und Liebesfähigkeit? Hatten wir nicht eine ganze Menge zu lernen von unseren Ahnen in dieser Hinsicht? Galt es nicht, auch das Leid als Teil des Lebens bejahen zu lernen? Je mehr ich dem nachspürte, desto deutlicher wurde, dass sich in solcher Liebes- und Hingabefähigkeit an das Göttliche ein Schatz verbarg, den es mit Dankbarkeit und Demut aufzunehmen galt.

Die grenzenlose Hingabefähigkeit der Mystikerinnen des Mittelalters zog die Umwertung der Werte nach sich, indem sie – den Leidensweg Christi spiegelnd – das eigene Leid anzunehmen und bejahend in ihr Leben zu integrieren strebten. Die oben zitierte Mechthild von Magdeburg konstatierte:

»In meinem großen Leiden offenbarte sich Gott meiner Seele, zeigte mir die Wunde seines Herzens und sprach: Sieh, wie weh man mir getan hat. – Da sprach meine Seele: Ach Herr, warum leidest du so große Not, da so viel von deinem heiligen Blut vergossen ward? In deinem Gebete allein sollte doch schon alle Welt erlöst sein! – Er antwortete: Nein, meinem Vater genügte das nicht. Denn all diese Armut und Mühsal, alle Marter und Schmach, das alles war nur ein Pochen an der Himmelspforte bis zu der Stunde, da mein Herzensblut niederrann. Da erst wurde der Himmel aufgetan.«(zit. nach Wehr, Gerhard (2006), S. 133)
 
Wie ließ sich die Hingabefähigkeit an die Ganzheit des Seins treffender beschreiben? Erst in der Integration von Licht und Schatten, von Freude und Leid, erst in der Aufhebung der Gegensätze, der Dualitäten, wie sie uns ebenso in den östlichen Weisheitslehren begegnen, öffnet sich der Weg zum Himmel, zur allumfassenden Liebe in uns selbst.

(Fortsetzung folgt)

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