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Wie bei vielen meiner Zeitgenossen führte mein Interesse, mehr über die Mystik zu erfahren, zunächst in den Osten. Kahlil Gibran und sein Prophet [Gibran, Khalil (1973)] war seit langem ein Bestseller, Osho mit seiner multimedialen Präsenz in den 80er und 90er Jahren gaben erste Hinweise. Die christliche Mystik des Mittelalters, geprägt von Meister Eckhart, Hildegard von Bingen, Heinrich Seuse, Johannes Tauler und einer Vielzahl von Frauen, die wenige Spuren hinterließen, blieben mir lange mit ihren Werken unbekannt.
Die fernöstlichen Ansätze der stillen und der Bewegungsmeditationen, der Atem- und Reinigungstechniken, des Yoga etc. erschienen näher und naheliegender als jene Praktiken des Christentums, die den Weg nach innen ermöglichen.
Überhaupt erstaunte es, dass es, nicht nur bei mir selbst, so wenig Verbindung zu den mystischen Traditionen des Christentums gab. Woran lag das? Ähnlich wie die Sufis im Islam wurden die christlichen Mystiker immer wieder der Häresie bezichtigt, bekämpft und verfolgt. Am Ende hinterließen sie wenige Spuren im kollektiven Gedächtnis, was vermutlich mit der Zäsur in Zusammenhang stand, welche mit der Reformation einherging.
»Keine äußere Autorität, auch kein kirchliches Lehr- oder Führungsamt bindet oder bestimmt den Mystiker. Viel wichtiger ist ihm jener ‚helle Schein‘, jene sein ganzes Leben erfüllende Erfahrung, die keine Stütze oder Rechtfertigung von außen her nötig hat ...
Mystik ist spirituelle Erfahrung, und zwar eine Erfahrung, die der Geist (Pneuma) Gottes schenkt und die jeweiligen Grenzen des menschlichen Erkennens, Begreifens, Fühlens und schließlich auch des Wollens sprengt; eine Erfahrung, die auf diese Weise den Menschen in seiner Wesensmitte verändert.« [Wehr, Gerhard (2006), Die deutsche Mystik S. 25]
Es waren folgende Aspekte, die ins Auge sprangen und für alle mystischen Traditionen zutrafen:
• Mystik tritt als Gegenbewegung zum religiösen Mainstream, zur herrschenden Lehre, der Kirche auf. Trotz vorhandener Schwankungen ihres kulturellen Einflusses und Akzeptanz bildeten Mystiker eine Minderheit.
• Der spirituelle Weg nach innen bedarf, wie im Zitat angedeutet, keiner äußeren Form oder Autorität. In dieser Hinsicht besitzt er durchaus anarchistische, anti-etatistische Wesenszüge, was ihn in den Augen der Herrschenden schwerer kontrollierbar macht.
• Beides, die Tatsache der Minderheitsströmung und ihr anarchistischer Charakter, macht die Mystik historisch anfällig für jede Art von Diskriminierung, Verfolgung und der damit einhergehenden Organisationsstrukturen von Orden, Geheimgesellschaften und Sekten.
• Der Mystiker strebt nach der Erfahrung des Göttlichen in der Seele, nicht nach der Erklärung Gottes auf der Ebene des Verstandes. Er sucht die Erleuchtung durch das Licht im Herzen, nicht nach seiner mathematisch-physikalischen Formel. Er fühlt sich angezogen von der Ekstase der Wahrheit, nicht von seiner theologischen Definition. Er wendet sich von der Dominanz des Ego-Verstandes ab und der Stimme des Herzens zu.
• Mystische Erfahrung bleibt in der Tiefe ein individuelles Erleben, im Gegensatz zu Gottesdienst und Liturgie der Kirche. Es geschieht oder es geschieht nicht. Keine Repräsentanz, keine Stellvertretung, keine ritueller Akt kann diese »Selbst-Erfahrung« ersetzen. Das mystische Erleben erweist sich so als Akt absoluter Hingabe an die innere Seelenwelt.
(Fortsetzung folgt)
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