Wilhelm Reich (links) mit Alexander Neill, dem Gründer von Summerhill |
Auf diesem Hintergrund griff ein Teil dieser Jugend auf den »frühen« Reich zurück, der den Zusammenhang zwischen unterdrückter Sexualität und gesellschaftlicher Repression in seinen Veröffentlichungen thematisiert hatte. Die Diskussion von Reichs Vorstellungen gehörte zur Pflichtlektüre jeder Wohngemeinschaft, einer Wohnform, die damals entstand. Ein paar Beispiele von Buchtiteln illustrieren dies: Die Sexualität im Kulturkampf, Die sexuelle Revolution, Die Funktion des Orgasmus (1927), Der Einbruch der sexuellen Zwangsmoral.
Reich tat sich darin als Psychoanalytiker, Marxist, als radikaler Kritiker der Unterdrückung in Familie und Gesellschaft hervor. Seine Thesen von der sexuellen Revolution faszinierten die Jugend. Er interpretierte die Unterdrückung der Sexualität als Herrschaftsinstrument, das es zu beseitigen galt, seine Terminologien beeinflussten den studentischen Jargon jener Tage.
Gleichzeitig herrschte in der Reich-Rezeption eine eigenartige Spaltung. Der »frühe«, radikale, gesellschaftskritische sexuelle Revolutionär wurde sorgfältig getrennt vom »späten« Reich, also dem der Emigrationsphase ab 1933.
In linken Kreisen kursierte der Mythos, Reich sei in seiner Emigrationsphase, von der ansonsten kaum etwas bekannt war, schizophren geworden. Er habe sich mit völlig verrückten Dingen wie einer »kosmischen Lebensenergie« befasst und eigenartige Kästen gebaut.
Im Grunde wusste man nichts. Es existieren bis heute keine Anhaltspunkte für die Behauptung, dass Reich geisteskrank war. Es trifft allerdings zu, dass seine wissenschaftlichen Themen weit vom Mainstream »verrückten«. Offenbar handelt es sich bei diesem Psychose-Mythos um die frühe Erscheinungsform einer »urban legend«.
Bis Ende der 60er Jahre existierte in Deutschland kein einziges Buch von Wilhelm Reich auf dem öffentlichen Buchmarkt.
Die Antiautoritären machten sich deshalb an die Arbeit, die vergriffenen Bücher aus den 20er und 30er Jahren auf einfachen Vervielfältigungsmaschinen zu sog. »Raubdrucken« zusammen zu fügen. Auf dem Campus und in Studentenkneipen brachte man diese an den Mann und die Frau. Oft wuchsen diese Raubdrucke zu heimlichen Bestsellern heran.
(Fortsetzung folgt)
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