Samstag, 19. August 2017

SEINSORIENTIERTE KÖRPERTHERAPIE (191): Wie die Funktion des Orgasmus im Abfallkorb landete ...

Taschenbuchausgabe der Erstveröffentlichung 1969
 Ein solch reges Interesse an den vergriffenen Werken von Wilhelm Reich blieb dem kommerziellen Buchmarkt nicht verborgen. 1969 erschien die erste in einem regulären publizierte Veröffentlichung von Reich, nämlich sein Buch »Die Funktion des Orgasmus – die Entdeckung des Orgon I«

Das Buch stellte eine Rückübersetzung aus dem Englischen dar, nämlich Reichs 1942 in den USA erschienene wissenschaftliche Autobiografie. Damit stellte er sich dem US-amerikanischen Publikum vor, nachdem er sich 1939 mit dem letzten Schiff aus Norwegen vor der Besetzung durch die Nazis in die USA flüchten konnte.

Die Funktion des Orgasmus – die Entdeckung des Orgon I präsentierte sich als das erste Buch von Reich, das dessen Arbeiten nach 1935, also dem Zeitpunkt des Ausbruchs seiner angeblichen Schizophrenie, in Deutschland bekannt machte.

Meine eigene Beziehungsgeschichte mit Reich begann mit diesem Buch. Sie startete stürmisch. Kaum erhältlich, konnte ich es nicht erwarten, das Buch zu lesen. Erste Gelegenheit bot eine lange Zugfahrt, die ich damals, gerade 18-jährig, unternahm.

Hier las ich erstmals über den von Reich entwickelten körpertherapeutischen Ansatz, den er »charakteranalytische Vegetotherapie« nannte. Seine Behauptung, dass im Körper Emotionen chronisch festgehalten werden, dass es einen »Körperpanzer« gäbe, dass in der biologischen Tiefe unseres Organismus reflexartige Wellenbewegungen in einen sog. »Orgasmusreflex« mündeten und seine Blockierung den Nährboden jeder Neurose darstellte, entsetzte mein Denken und faszinierte meine Seele.

Reich provozierte und beeindruckte mich von diesem Augenblick an. Da sprach jemand, direkt und klar, der die Macht der Sexualität und des Gefühlslebens kannte und mit radikaler Offenheit darüber schrieb, eine Macht, die ich als Achtzehnjähriger mit jedem Atemzug intensiv wahrnahm.

Reichs Vorstellungen allerdings, dass Emotionen in den Muskeln festgehalten und körpertherapeutisch behandelt werden könnten, provozierten mein rational-wissenschaftliches, an Freud orientiertes Weltbild und meine frühreife Kopflastigkeit. Ich fand es unverschämt, welches abgedrehte und verrückte Zeug der Autor in seinem Buch verbreitete. Wie konnte er nur den genialen Übervater Freud so missverstehen?

Heute vermute ich, dass das Gerücht von Reichs Schizophrenie auch in mir seine Spuren hinterlassen hatte. Ich hatte sein Buch fast ausgelesen, als ich am Zielbahnhof ankam. Voller intellektueller Abscheu warf ich die Funktion des Orgasmus – die Entdeckung des Orgon I in den erstbesten Abfallkorb. Mit solch theatralischer Geste glaubte ich, das Thema Reich abgeschlossen zu haben.

Der Triumph meines Ego-Verstands über diese Entscheidung währte allerdings nicht lange. Als ich den Bahnhofsvorplatz erreichte, machte ich spontan kehrt, rannte die Stufen zum Bahnsteig hoch, um das Buch aus dem Abfall zu fischen. Doch ich hatte Pech, es war verschwunden! Offensichtlich gab es 1969 außer mir noch andere Interessenten an der Funktion des Orgasmus.

Am gleichen Tag kaufte ich mir ein neues Exemplar in der nächsten Buchhandlung und beschloss, in Zukunft achtsamer und sorgfältiger mit Reichs Veröffentlichungen umzugehen.

(Fortsetzung folgt)

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