Eva Reich vor ihrem Haus in Maine |
Eine weißhaarige Frau Mitte 60, eher hippiemäßig als damenhaft gekleidet, betrat den Raum und begann, eifrig gestikulierend und von Anbeginn an mitreißend zu reden. Ihre jugendliche Erzählweise und ihr Enthusiasmus bildeten einen faszinierenden Kontrast zu ihren schlohweißen Haaren und ihrem faltigen Gesicht. Mit dem Werk ihres Vaters zeigte sie sich nicht nur theoretisch, sondern durch ihre enge Zusammenarbeit mit ihm bestens vertraut. In ihrem Vortrag oszillierte sie leichtgängig und unterhaltsam zwischen theoretischer Klarheit und kleineren Anekdoten. Sie zog mich sofort in ihren Bann.
Eva sprach fließend Deutsch. Dabei handelte es sich um ein »Kinderdeutsch«, also um den Wortschatz, den sie bei der Auswanderung in die USA 1935 besaß. Diese Kombination von äußerer Erscheinung und kindlicher Sprache trug zu dem Charme bei, der auf ihre Zuhörer wirkte.
Eva Reichs spezielles Interesse galt den Schwangeren, den Müttern, den Neugeborenen, Babys und Kleinkindern. In den 50-er Jahren hatte sie Medizin studiert und bis zu seinem Tode 1957 intensiv mit ihrem Vater Wilhelm Reich zusammengearbeitet. Eva lebte praktizierte anschließend als Landärztin und Geburtshelferin im dünn besiedelten US-Staat Maine.
Mir fiel auf, dass sie in ihrem Vortrag, wenn sie von Wilhelm Reich sprach, ständig wechselte zwischen den Termini »mein Vater« und »Reich«. Dies verriet eine Menge über die Beziehung, die sie zu ihm hatte. Als Scheidungskind von Reichs erster Ehe mit der Psychoanalytikerin Annie Reich-Pink, trennte sie eine lange Phase von Entfremdung und Kontaktunterbrechung von ihrem Vater. Erst in den letzten Jahren fand sie wieder zu ihm und avancierte zu seiner engsten Schülerin und Assistentin.
Sie berichtete mir später von einem der schrecklichsten Augenblicke ihres Lebens: Als 15-jährige hatte sie auf Wunsch ihrer Mutter eine Analyse bei einer Psychoanalytikerin begonnen, einer Freundin von Annie Reich-Pink. Dabei setzte man das junge Mädchen dermaßen unter Druck, dass sie schließlich einen Satz aussprach, den man von ihr verlangte: »Ja, ich sehe es ein, mein Vater ist verrückt.« Eva nannte es »ihre Gehirnwäsche«. Ich kann mir vorstellen, dass mit dieser Erfahrung auch Schuldgefühle verknüpft waren, die später zur Triebkraft ihres leidenschaftlichen Engagements für das Werk ihres Vaters erwuchsen.
Diese erste Vortragsveranstaltung mit Eva und der daran anschließende Workshop stellten den Beginn meiner langjährigen Schülerschaft und wachsenden Freundschaft mit Eva Reich dar. Von da an kam sie über viele Jahre regelmäßig nach Berlin, bot Vorträge, Workshops und Einzelsitzungen an.
Nicht nur mein Interesse, sondern manches, was in meinen Ausführungen zur frühkindlichen Entwicklung entwickelt wird, nahm durch meine Lehrzeit bei Eva Reich ihren Anfang. Ich verdanke ihr, dass sie die innere Flamme für die frühen Entwicklungsstufen des Menschen, ihre Wirkung und ihre therapeutische Transformation in mir entzündete.
(Fortsetzung folgt)
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