Eva Reich nach ihrem Schlaganfall 2003 |
Bei meinem ersten Besuch nutzte ich die frühen Morgenstunden dazu, um im Arbeitszimmer, das sie mir zur Verfügung gestellt hatte, zu lesen und zu schreiben. Ich glaube, es handelte sich passenderweise um Aufsätze, die ich später in der Wilhelm-Reich-Zeitschrift »emotion« veröffentlichte. Eines Tages fiel mir auf, dass Eva, wenn sie nebenan in der Küche herumnestelte, sich leise, wie auf Zehenspitzen bewegte. Ich fragte nach dem Grund. Daraufhin erläuterte sie mit leichter Scheu, dass sie gelernt hätte, still zu sein, wenn ihr Vater in Orgonon morgens im Arbeitszimmer saß. Er hätte ansonsten wütend und schreiend reagiert, insbesondere, wenn er sich durch irgendwelche Geräusche beim Schreiben gestört fühlte. Dass diese Hausregel noch bei einer weißhaarigen alten Dame, die sich zudem in ihrem eigenen Haus bewegte, Spuren zeigte, spricht für sich. Dass solche Anekdoten korrektive Wirkungen auf den leidenschaftlich idealisierenden Reich-Anhänger in mir ausübten, muss nicht betont werden.
Ein anderes eindrucksvolles Erlebnis fand eines Tages beim Besuch einer etwa gleichaltrigen Dame statt. Eva stellte sie mir als ihre »beste Freundin« vor und schob lapidar den Namen hinterher: Sophie Freud. Es handelte sich die Enkeltochter von Sigmund Freud, eine emeritierte Professorin für Sozialpädagogik aus Boston. Eva und sie gingen als Kinder in Wien zusammen zur Schule. Jahrzehnte später fanden sie sich während der Emigrationszeit in den USA wieder. Es berührte mich, dass die Kämpfe und der tiefe Graben, den Vater und Großvater in ihren wissenschaftlichen Auseinandersetzungen ausgefochten und geschaffen hatten, von Tochter und Enkelin in dieser Freundschaft zweier alter Frauen ein Stück Versöhnung erfuhren.
Eva Reich erwies sich, trotz des Namens, den sie trug, niemals als »Reichianerin«. Eine ihrer hervorstechendsten Charakterzüge lag in der Offenheit für alles, was sich in ihrem Umfeld bewegte und entwickelt hatte. Dadurch versetzte sie mich in die glückliche Lage, körpertherapeutische Ansätze kennenzulernen, die heute längst vergessen sind, z. B. das »Rebirthing nach Frank Lake« (nicht zu verwechseln mit der bekannteren Rebirthing-Methode nach Leonard Orr) oder die weitgehend unbekannte Notfall-Polarity nach Randolph Stone. Manches davon vermittelte ich später innerhalb meiner eigenen Ausbildungen, so dass dieses Wissen weiter lebt.
Als ich Eva kennenlernte, reiste sie bereits einige Jahre in der Welt herum, um ihre Arbeit mit Schwangeren und Babys zu verbreiten. Wenn ich mich richtig erinnere, lehrte sie in 30-40 verschiedenen Ländern der Welt in allen Teilen der Erde. Sie zeigte ein dezidiertes Wissen über die Hintergründe gesellschaftlicher Neurotisierungsprozesse, die sie – und diesen Ansatz teile ich bis heute mit ihr – in den jeweils kulturspezifischen vorherrschenden Erziehungsstilen begründet sah. Ihr besonderes Augenmerk galt hier den frühkindlichen Bindungsangeboten und der Unterdrückung kindlicher Sexualität, hinlänglich in der Tradition ihres Vaters Wilhelm Reich.
Das, was man gemeinhin als »Mentalität« eines Volkes oder einer Nation bezeichnet, könnte hier seinen Ursprung besitzen. Nämlich in jenen Gepflogenheiten des weiten Feldes von Schwangerschaft, Geburt und Erziehung, die sich auf die Persönlichkeitsbildung der Kinder typischerweise auswirken und sich von Volk zu Volk, von Land zu Land unterscheiden. Hinter allem steht die Frage: Wie wird die Natur des Kindes durch die jeweilige Gesellschaft geformt, wie wird die Natur zu dem geprägt, was wir als Kultur bezeichnen?
Naheliegenderweise befragte man Eva Reich bei ihren zahlreichen Vorträgen überall auf der Welt nach ihrem berühmten Vater. Ihre Zuhörer zeigten sich begierig, Details zu erfahren, die sie nicht in Büchern nachlesen konnten. Fragen, die Eva stets brav beantwortete, obwohl sie mindestens genauso gern über ihre eigene Arbeit mit Schwangeren, Müttern und Babys sprach, ihrem Herzensanliegen.
Bei einem ihrer Vorträge in Berlin geschah etwas Seltsames: Eva berichtete von der Arbeit ihres Vaters in den späten 50er Jahren, von Experimenten mit der energetischen Wetterkontrolle. Dazu projizierte sie einige Fotos an die Wand. Just in dem Augenblick, als sie über das Verhältnis zu ihrem Vater die Worte aussprach: »Wir hatten eine stürmische Beziehung« stieß eine Windböe mit lauten Knall die Fenster des Vorlesungssaals auf, exakt dort, wo Eva wenige Meter entfernt redete. Das Publikum lachte erheitert auf, aber wer genau hinsah, erkannte eine Art vertrauten Schreckens in Evas Augen. Eine wahrhaft stürmische Beziehung!
(Fortsetzung folgt)
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