Donnerstag, 31. August 2017

SEINSORIENTIERTE KÖRPERTHERAPIE (194): Was es mit dem Orgasmus-Übungsbuch auf sich hat

Übung aus dem Selbsthife-Buch "Orgasmus"

Nach den Workshops mit Peter Johnes hatten die Teilnehmer Blut geleckt. Ein starkes Bedürfnis nach kontinuierlicher Körpertherapie artikulierte sich, das durch die gelegentlichen Besuche von Peter in Berlin nicht gedeckt werden konnte.

Wir riefen eine körpertherapeutische Selbsthilfe-Bewegung ins Leben, Selbsthilfe lag damals voll im Trend. Therapeutische Selbst-Veränderung diskutierte man, noch voll in der Tradition der antiautoritären Bewegung, brav in gesellschaftskritischen Kontext. Ein Therapeut-Patient-Verhältnis, das durch Macht und Kommerz definiert ist, galt als ethisch dubios und sozialpolitisch rückwärts gewandt.

Das Konzept einer Selbsthilfe-Bewegung fokussierte auf die Idee, durch gemeinsame Übungen in der Gruppe oder in Kleingruppen durch Körperübungen den Prozess der Entpanzerung der Körperseele voranzubringen.

Es existierte in jenen Tagen ein einflussreiches Buch, gefüllt mit körpertherapeutischen Übungen zur Selbsthilfe. Es trug den vielversprechenden Titel "Orgasmus". Anhand von Zeichnungen und genauen Beschreibungen stellte das Buch körpertherapeutische Übungen dar, die überwiegend aus dem Bereich der Bioneregetik stammten. Als Autor zeichnete der amerikanische Körpertherapeut Jack Lee Rosenberg. Nicht etwa ein regulärer Verlag gab dieses Buch heraus, sondern ein in Berlin ansässiger Verein namens »Seterap«, ein Selbsthilfe-Therapiezentrum mit gesellschaftspolitischem Anspruch.

Das Vorwort zu "Orgasmus" spiegelt eindrucksvoll in Form und Inhalt den Zeitgeist jener Tage. Deshalb hier ein längeres Zitat aus dem Vorwort dieses Buches:

»Warum wir dieses Buch herausgeben: Wir, das sind eine Gruppe von jetzt etwa zwanzig Aktiven, von denen sich ein Kern von zehn Leuten seit einem Jahr regelmäßig trifft. Viele von uns haben lange in der schwulen Befreiungsbewegung, der feministischen Frauenbewegung oder in der antiautoritären Bewegung mitgearbeitet. Der Grund unserer Zusammenkünfte war anfänglich das Studium der Schriften Wilhelm Rechs. Wir haben uns über die Funktion des Orgasmus den Kopf zerbrochen und uns in der Beschreibung der menschlichen Charakterstruktur seiner »Charakteranalyse« wiedergefunden und stellen als Konsens fest, dass unsere Erlebnisse der Studentenrevolte, in den Organisationen an der Uni, in unserem Berufsleben, in unserem Studium, uns unbefriedigt und frustriert zurücklassen. In Wilhelm Reich fanden wir jemanden, der uns den theoretischen Zusammenhang von Individuum - Gesellschaft bis in kleinste Merkmale der eigenen Charaktermaske treffend analysierte.
Wir wurden positiv provoziert. Hatten die Schnauze gestrichen voll von den Verdrängungsmechanismen unserer Umwelt und wollten uns nicht damit abfinden, dass die jetzigen Verhältnisse immer und in jedem Fall den Menschen krank und neurotisch machen. Wilhelm Reich schien uns einen Weg zu weisen, wie unsere Neurose zu bewältigen sei. (...)« (Rosenberg, 1973, Vorwort)

Also trafen sich die Teilnehmer der Workshops von Peter Jones regelmäßig, um in Kleingruppen oder zu zweit mit wechselnden Rollen als Therapeut und Klient sich gegenseitig zu »therapieren«. Dahinter steckte die ebenso naive wie mechanistische Vorstellung, dass man eine Übung nur richtig machen und oft genug wiederholen müsste, um sich von seinem Körper- und Charakterpanzer zu befreien. Typischerweise ließ ein solches, rein intellektuelles Modell all jene Aspekte von Kontakt, Beziehung und Übertragung außer Acht, die im Folgenden noch ausführlich thematisiert werden.

(Fortsetzung folgt)

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