Montag, 22. April 2019

SEINSORIENTIERTE KÖRPERTHERAPIE (260): Rumi und die Melodien der Sehnsucht

foto: pixabay
Die Anziehung, die Rumi ausübt, scheint ungebrochen. Dieser Mystiker-Poet, glückselig, ekstatisch, trunken von der Energie der Liebe, berührt bis zum heutigen Tage zahllose Menschen, die seiner Poesie begegnen. Wie vermögen ein paar Worte eine solche Wirkung auszuüben?

Sie sprechen Wahrheit aus, aus der Tiefe des Herzens, berühren sie im Leser, lassen sie anklingen, bewegen, sich regen. Wahrheit, die, unabhängig von Zeit und Kultur, Menschsein ausmacht: das Erkennen der Natur, der Kraft und der Energie der Liebe.
 
So leben Tiefe und Weisheit dieser Poesie aus längst vergangenen Tagen bis heute. Ibn Arabis und Rumis Lyrik wirken zeitlos. Sie geben Zeugenschaft über die ureigensten Themen der Seele: Spiritualität und Liebe. Sie widmen sich ihnen auf der Ebene der direkten, ekstatischen, grenzenlosen Gotteserfahrung. Nicht fein ziselierte Wortspielereien oder intellektuelle Architekturen aus Metaphern, Rhythmen und Reimen bilden die Anziehung, die ihre Poesie ausübt, sondern die Versprachlichung menschlichen Seelenlebens in seiner spirituellen Tiefe.

Nicht die die Form, die Wahl der Worte, sondern die Inhalte selbst sind es, welche die Faszination dieser Poesie ausmachen. Sie erreichen uns aus der Tiefsee der menschlichen Seele, berühren sie im Du, bringen sie und ihre Sehnsucht zum Klingen. Die Liebe, die Rumi besingt, ist nicht die personale, sondern die transpersonale, nicht die bedingte, sondern die bedingungslose, allumfassende, göttliche Liebe:

Neunte Ghasele

Tritt an zum Tanz! Wir schweben
In dem Reihn der Liebe,
Wir schweben in der Lust
Und in der Pein der Liebe.
Der ew’gen Liebe Botschaft
Hört‹ ich von dem Tode,
Dass Gott den Tod getränkt
Im Lebenswein der Liebe.
Die Kraft der Liebe löste
Leise mir den Nabel,
Als Mutter Liebe mich
Gebar ins Sein der Liebe.
Ich frug die Liebe: Wie
Soll ich der Lieb‹ entgehen?
Sie sprach: Ohn‹ Ausgang ist
Der Zauberhain der Liebe.
Der Liebe Zauberspiegel
Strahlet Weltgestalten,

Der Blick verirrt sich
In den Schilderein der Liebe.
Gib deinen Leib wie Gold
In Liebe’s Läutrungsschmerzen;
Denn Schlack‹ ist Gold, das nicht
Die Glut macht rein der Liebe.
Ich sage dir, warum
Das Weltmeer schlägt die Wogen:
Es tanzt im Glanze
Vom Weltedelstein der Liebe.
Ich sage dir, wie aus dem Ton
Der Mensch geformt ist:

Weil Gott dem Tone blies
Den Odem ein der Liebe.
Ich sage dir, warum
Die Himmel immer kreisen:
Weil Gottes Thron sie füllt
Mit Wiederschein der Liebe.
Ich sage dir, warum
Die Morgenwinde blasen:
Frisch aufzublättern stets
Den Rosenhain der Liebe.
Ich sage dir, warum
Die Nacht den Schleier umhängt.
Die Welt zu einem Brautzelt
Einzuweih‹n der Liebe.
Ich kann die Rätsel alle
Dir der Schöpfung sagen,

Denn aller Rätsel Lösungswort
ist mein, der Liebe.

Rumis Poesie verweist auf jenen erleuchteten Zustand, in welcher ein Mensch in vollendetem Kontakt mit der Essenz des Seins steht. Die Form tritt zurück hinter das Orchester der Worte. Ein Orchester, das eine Musik erklingen lässt, welche als »Musik Gottes« oder »Gesang der Engel« ertönt. Musik, die in den Tiefen der menschlichen Seele immer existierte und existiert, wird ohrenfällig. Es ist, als ob Rumi nur den Lautstärkepegel erhöht, schon hören wir Melodien in uns anklingen, die dort lautlos harrten: Melodien der Sehnsucht nach grenzenloser und formloser Liebe.

(Fortsetzung folgt)