Donnerstag, 31. August 2017

SEINSORIENTIERTE KÖRPERTHERAPIE (194): Was es mit dem Orgasmus-Übungsbuch auf sich hat

Übung aus dem Selbsthife-Buch "Orgasmus"

Nach den Workshops mit Peter Johnes hatten die Teilnehmer Blut geleckt. Ein starkes Bedürfnis nach kontinuierlicher Körpertherapie artikulierte sich, das durch die gelegentlichen Besuche von Peter in Berlin nicht gedeckt werden konnte.

Wir riefen eine körpertherapeutische Selbsthilfe-Bewegung ins Leben, Selbsthilfe lag damals voll im Trend. Therapeutische Selbst-Veränderung diskutierte man, noch voll in der Tradition der antiautoritären Bewegung, brav in gesellschaftskritischen Kontext. Ein Therapeut-Patient-Verhältnis, das durch Macht und Kommerz definiert ist, galt als ethisch dubios und sozialpolitisch rückwärts gewandt.

Das Konzept einer Selbsthilfe-Bewegung fokussierte auf die Idee, durch gemeinsame Übungen in der Gruppe oder in Kleingruppen durch Körperübungen den Prozess der Entpanzerung der Körperseele voranzubringen.

Es existierte in jenen Tagen ein einflussreiches Buch, gefüllt mit körpertherapeutischen Übungen zur Selbsthilfe. Es trug den vielversprechenden Titel "Orgasmus". Anhand von Zeichnungen und genauen Beschreibungen stellte das Buch körpertherapeutische Übungen dar, die überwiegend aus dem Bereich der Bioneregetik stammten. Als Autor zeichnete der amerikanische Körpertherapeut Jack Lee Rosenberg. Nicht etwa ein regulärer Verlag gab dieses Buch heraus, sondern ein in Berlin ansässiger Verein namens »Seterap«, ein Selbsthilfe-Therapiezentrum mit gesellschaftspolitischem Anspruch.

Das Vorwort zu "Orgasmus" spiegelt eindrucksvoll in Form und Inhalt den Zeitgeist jener Tage. Deshalb hier ein längeres Zitat aus dem Vorwort dieses Buches:

»Warum wir dieses Buch herausgeben: Wir, das sind eine Gruppe von jetzt etwa zwanzig Aktiven, von denen sich ein Kern von zehn Leuten seit einem Jahr regelmäßig trifft. Viele von uns haben lange in der schwulen Befreiungsbewegung, der feministischen Frauenbewegung oder in der antiautoritären Bewegung mitgearbeitet. Der Grund unserer Zusammenkünfte war anfänglich das Studium der Schriften Wilhelm Rechs. Wir haben uns über die Funktion des Orgasmus den Kopf zerbrochen und uns in der Beschreibung der menschlichen Charakterstruktur seiner »Charakteranalyse« wiedergefunden und stellen als Konsens fest, dass unsere Erlebnisse der Studentenrevolte, in den Organisationen an der Uni, in unserem Berufsleben, in unserem Studium, uns unbefriedigt und frustriert zurücklassen. In Wilhelm Reich fanden wir jemanden, der uns den theoretischen Zusammenhang von Individuum - Gesellschaft bis in kleinste Merkmale der eigenen Charaktermaske treffend analysierte.
Wir wurden positiv provoziert. Hatten die Schnauze gestrichen voll von den Verdrängungsmechanismen unserer Umwelt und wollten uns nicht damit abfinden, dass die jetzigen Verhältnisse immer und in jedem Fall den Menschen krank und neurotisch machen. Wilhelm Reich schien uns einen Weg zu weisen, wie unsere Neurose zu bewältigen sei. (...)« (Rosenberg, 1973, Vorwort)

Also trafen sich die Teilnehmer der Workshops von Peter Jones regelmäßig, um in Kleingruppen oder zu zweit mit wechselnden Rollen als Therapeut und Klient sich gegenseitig zu »therapieren«. Dahinter steckte die ebenso naive wie mechanistische Vorstellung, dass man eine Übung nur richtig machen und oft genug wiederholen müsste, um sich von seinem Körper- und Charakterpanzer zu befreien. Typischerweise ließ ein solches, rein intellektuelles Modell all jene Aspekte von Kontakt, Beziehung und Übertragung außer Acht, die im Folgenden noch ausführlich thematisiert werden.

(Fortsetzung folgt)

Montag, 28. August 2017

SEINSORIENTIERTE KÖRPERTHERAPIE (193): Körpertherapeutische Selbsthilfe und eine gescheiterte Selbststeuerung

Foto: vkd
Allerdings: Außer diesen ersten Bioenergetikern gab es keine Therapeuten in Deutschland, welche Reichs »charakteranalytische Vegetotherapie« oder »Orgontherapie« ausübten. Nur in München praktizierte damals noch ein greiser direkter Schüler von Reich, Dr. Hoppe. Aber wegen der großen Entfernung zu Berlin, wo ich inzwischen lebte, stellte das keine Option dar.

Dort kam ich mit Reich-Kennern in Kontakt. Professor Bernd Senf startete seine legendären Vorträge über Wilhelm Reich in der Mitte der 70er Jahre. Er zog jede Woche Hunderte von Zuhörern an. Nach einem dieser Vorträge kam ich mit ihm ins Gespräch.

Er erzählte mir von seiner Vision, eine Wilhelm-Zeitschrift im deutschsprachigen Raum ins Leben zu rufen. Das Konzept stand, einen Titel hatte er parat: »Emotion – Beiträge zum Werk von Wilhelm Reich«. Emotion sollte in Buchform mit 1–2 Ausgaben pro Jahr erscheinen.

Ich arbeitete damals als linksorientierter Journalist und besaß das Knowhow, wie man eine Zeitschrift oder ein Buch macht. Gemeinsam mit Bernd Senf und einigen anderen, die sich intensiv mit Reich beschäftigten oder beschäftigen wollten, riefen wir die Redaktion der Wilhelm-Reich-Zeitschrift »Emotion« ins Leben. Diese Gruppe sollte über einige Jahrzehnte den Diskurs über Reichs Werk im deutschsprachigen Raum bestimmen.

In dieser Gründungsphase trafen sich 20–30 Personen, mit durchaus unterschiedlichen Interessen. Neben der Arbeit an der Zeitschrift selbst wurde schnell klar, dass ein Grundproblem existierte: Es gab eine riesige Nachfrage nach der körpertherapeutischen Methode Reichs, aber kein entsprechendes Angebot.

Wir diskutierten eingehend, wie man das Problem lösen könnte, begierig, die originäre Vegetotherapie kennenzulernen. Über mehrere Ecken kamen wir in Kontakt mit Peter Jones in England. Peter war Patient und Schüler von Ola Raknes, dem wiederum ältesten, aber bereits verstorbenen Wegbegleiter und Schüler Reichs in Norwegen. Raknes hatte ein damals viel beachtetes Buch in deutscher Sprache veröffentlicht Wilhelm Reich und die Orgonomie. Kurzum, Peter Jones mussten wir unbedingt nach Berlin bringen.

Über Bernd Senfs Vorlesungsreihe und weitere Vernetzungen ließen sich in kürzester Zeit fast 100 Interessenten mobilisieren, die an einem oder mehreren mehrtägigen Reich-Workshops mit Peter Jones in Berlin teilnehmen wollten. Es fand in der »Öko-Fabrik« statt, einer ausgedehnten Fabriketage in Berlin-Schöneberg, dem Vorläufer des später bekannten Öko-Projekts »Ufa-Fabrik« in Berlin-Tempelhof.

Hundert Leute oder mehr warteten begierig, die originäre Reich-Methode endlich kennenzulernen. Peter Jones, ein sympathischer, zurückhaltender Brite mit leiser Stimme und vor Aufregung hochrotem Kopf, zeigte sich leicht überfordert.

Jahre später erfuhr ich, dass er zwar eine Einzeltherapie bei Ola Raknes absolviert hatte, aber keine Erfahrungen für die Leitung von Gruppen mitbrachte. Die hohe Teilnehmeranzahl dürfte damals einen Schock ausgelöst haben. Dennoch schlug Peter sich tapfer, um das Durcheinander in den Griff zu bekommen. Er erläuterte Prinzipien der Vegetotherapie, zeigte ein paar grundlegende Techniken, leitete Gruppen- und Partnerübungen an. All dies hinterließ allerdings keinen bleibenden Eindruck, denn ich besitze nur noch vage Erinnerungen an diese Workshops.

Als alleinerziehender Vater brachte Peter seine etwa 4-jährige Tochter mit. Unter dem Eindruck der Theorien Reichs und unserer eigenen idealisierenden Übertragungen glaubten wir in ihr einem originären »selbstgesteuerten« (Wie sein Freund und Schüler Alexander S. Neill plädierte Wilhelm Reich für ein »selbstgesteuertes« Aufwachsen der Kinder. Wenn diese ohne repressive Eingriffe von Familie und Gesellschaft sich in ihrer Natur entwickeln dürfen, würden sie zu einer gesunden, d. h. triebbejahenden und nicht-neurotischen Persönlichkeit heranwachsen) Kind zu begegnen. Dabei übersahen wir geflissentlich, dass die Kleine permanent Süßigkeiten in sich reinstopfte und vielmehr als »oral frustriert« eingeschätzt werden musste.

(Fortsetzung folgt)

Samstag, 26. August 2017

SEINSORIENTIERTE KÖRPERTHERAPIE (192): Wilhelm Reich und die Anfänge der Körpertherapie in Deutschland

Alexander Lowen
In den folgenden Jahren schwappte die Welle der »Humanistischen Psychologie« aus den Vereinigten Staaten nach Europa hinüber. Sie umfasste bereits ein weites Spektrum von Methoden, die ganzheitliches, den Dialog in den Mittelpunkt stellendes Menschenbild, verbanden.

"1962 gründete ... eine Gruppe um Maslow, zusammen mit Charlotte Bühler, Rogers, Köstler, May, Goldstein, Huxley, Mumford, Sutich, Bugental u. a., der sich auch Satir und Perls zurechneten, die »Association of Humanistic Psychology«, die sich hinsichtlich der Verhaltenstherapie und der Psychoanalyse als »dritte Kraft« verstand. Virginia Satir nannte sie stets die »Human-Potential-Bewegung«. Ab 1961 gab Stich die Zeitschrift »Humanistische Psychologie« heraus. (Hartmann-Kottek, 2008 S. 48)

Ein wesentlicher Teil widmete sich der Arbeit mit dem Körper. Insbesondere ein ehemaliger Schüler Reichs in den USA, Alexander Lowen, der die sog. »Bioenergetische Analyse« begründete, wurde durch Publikationen, Film und Presse auch in Europa bekannt.

Hierzulande wuchsen die Publikationen und Übersetzungen der Bücher Reichs aus seiner Emigrationsphase. Ein nahezu explosives Interesse junger Menschen erwachte, die menschliche Seele über den Körper und nicht nur über die Worte zu erreichen. Zeigte sich hier eine Gegenbewegung gegenüber der intellektuellen Wortlastigkeit der antiautoritären Bewegung, die nicht zum Ziel geführt hatte? Nachdem die Revolution in der Außenwelt, der Gesellschaft offensichtlich scheiterte, sollte sie in der Innenwelt, der Seele des Einzelnen, verwirklicht werden. Der Weg über den Körper klang vielversprechend, neuartig und revolutionär.

Aber wo und wie ließen sich diese Methoden kennenlernen? So faszinierend die moderne Körpertherapie in der Tradition von Reich sich in den Veröffentlichungen darstellte, so schwierig, ja fast unmöglich gestaltete es sich, sie am eigenen Körper zu erfahren. Lowens »Bioenergetische Analyse« galt als verwässerter Abklatsch der »echten« Reichianischen Therapiemethode, zudem gab es damals höchstens ein Dutzend ausgebildete Bioenergetik-Therapeuten in Deutschland.

Einen davon hatte ich Mitte der 70er Jahre persönlich kennengelernt, als ich vor meiner Übersiedlung nach Berlin noch im Ruhrgebiet lebte. Dort praktizierte Ulrich Sollmann, der dieser ersten Generation von Bioenergetikern in Deutschland zuzurechnen ist. Ich nahm eine Zeitlang Einzelsessions. Sie überzeugten mich endgültig davon, dass dieser neuartige Ansatz in der Tradition von Reich, über den Körper die Seele zu berühren, wirkte.

In den Büchern Reichs klang vieles radikaler, ekstatischer, befreiender, als das, was die »Bioenergetische Analyse« anbot. Wie ich sie damals kennenlernte, stellte sie eine Aneinanderreihung von Körperübungen dar, leugnete die energetischen Dimensionen. Auch wenn die Kopie gegen das Original abfiel, erwies sie sich als wirkungsvoll, machte Appetit auf mehr.

(Fortsetzung folgt)

Samstag, 19. August 2017

SEINSORIENTIERTE KÖRPERTHERAPIE (191): Wie die Funktion des Orgasmus im Abfallkorb landete ...

Taschenbuchausgabe der Erstveröffentlichung 1969
 Ein solch reges Interesse an den vergriffenen Werken von Wilhelm Reich blieb dem kommerziellen Buchmarkt nicht verborgen. 1969 erschien die erste in einem regulären publizierte Veröffentlichung von Reich, nämlich sein Buch »Die Funktion des Orgasmus – die Entdeckung des Orgon I«

Das Buch stellte eine Rückübersetzung aus dem Englischen dar, nämlich Reichs 1942 in den USA erschienene wissenschaftliche Autobiografie. Damit stellte er sich dem US-amerikanischen Publikum vor, nachdem er sich 1939 mit dem letzten Schiff aus Norwegen vor der Besetzung durch die Nazis in die USA flüchten konnte.

Die Funktion des Orgasmus – die Entdeckung des Orgon I präsentierte sich als das erste Buch von Reich, das dessen Arbeiten nach 1935, also dem Zeitpunkt des Ausbruchs seiner angeblichen Schizophrenie, in Deutschland bekannt machte.

Meine eigene Beziehungsgeschichte mit Reich begann mit diesem Buch. Sie startete stürmisch. Kaum erhältlich, konnte ich es nicht erwarten, das Buch zu lesen. Erste Gelegenheit bot eine lange Zugfahrt, die ich damals, gerade 18-jährig, unternahm.

Hier las ich erstmals über den von Reich entwickelten körpertherapeutischen Ansatz, den er »charakteranalytische Vegetotherapie« nannte. Seine Behauptung, dass im Körper Emotionen chronisch festgehalten werden, dass es einen »Körperpanzer« gäbe, dass in der biologischen Tiefe unseres Organismus reflexartige Wellenbewegungen in einen sog. »Orgasmusreflex« mündeten und seine Blockierung den Nährboden jeder Neurose darstellte, entsetzte mein Denken und faszinierte meine Seele.

Reich provozierte und beeindruckte mich von diesem Augenblick an. Da sprach jemand, direkt und klar, der die Macht der Sexualität und des Gefühlslebens kannte und mit radikaler Offenheit darüber schrieb, eine Macht, die ich als Achtzehnjähriger mit jedem Atemzug intensiv wahrnahm.

Reichs Vorstellungen allerdings, dass Emotionen in den Muskeln festgehalten und körpertherapeutisch behandelt werden könnten, provozierten mein rational-wissenschaftliches, an Freud orientiertes Weltbild und meine frühreife Kopflastigkeit. Ich fand es unverschämt, welches abgedrehte und verrückte Zeug der Autor in seinem Buch verbreitete. Wie konnte er nur den genialen Übervater Freud so missverstehen?

Heute vermute ich, dass das Gerücht von Reichs Schizophrenie auch in mir seine Spuren hinterlassen hatte. Ich hatte sein Buch fast ausgelesen, als ich am Zielbahnhof ankam. Voller intellektueller Abscheu warf ich die Funktion des Orgasmus – die Entdeckung des Orgon I in den erstbesten Abfallkorb. Mit solch theatralischer Geste glaubte ich, das Thema Reich abgeschlossen zu haben.

Der Triumph meines Ego-Verstands über diese Entscheidung währte allerdings nicht lange. Als ich den Bahnhofsvorplatz erreichte, machte ich spontan kehrt, rannte die Stufen zum Bahnsteig hoch, um das Buch aus dem Abfall zu fischen. Doch ich hatte Pech, es war verschwunden! Offensichtlich gab es 1969 außer mir noch andere Interessenten an der Funktion des Orgasmus.

Am gleichen Tag kaufte ich mir ein neues Exemplar in der nächsten Buchhandlung und beschloss, in Zukunft achtsamer und sorgfältiger mit Reichs Veröffentlichungen umzugehen.

(Fortsetzung folgt)

Sonntag, 13. August 2017

SEINSORIENTIERTE KÖRPERTHERAPIE (190): Die sexuelle Revolution und der verrückte Reich

Wilhelm Reich (links) mit Alexander Neill, dem Gründer von Summerhill
Insbesondere die Beschäftigung mit dem Thema Sexualität bewegte, es stellte ein zentrales Motiv des sozialpolitischen Bewusstseins jener Tage dar. Die emotionalen Blockierungen der älteren Generation gingen einher mit ihrer völlig verklemmten Sexualität, einer Prüderie, die sich in den 60er Jahren zunächst in kleinen, dann immer größeren Schritten lockerte.

Auf diesem Hintergrund griff ein Teil dieser Jugend auf den »frühen« Reich zurück, der den Zusammenhang zwischen unterdrückter Sexualität und gesellschaftlicher Repression in seinen Veröffentlichungen thematisiert hatte. Die Diskussion von Reichs Vorstellungen gehörte zur Pflichtlektüre jeder Wohngemeinschaft, einer Wohnform, die damals entstand. Ein paar Beispiele von Buchtiteln illustrieren dies: Die Sexualität im Kulturkampf, Die sexuelle Revolution, Die Funktion des Orgasmus (1927), Der Einbruch der sexuellen Zwangsmoral.

Reich tat sich darin als Psychoanalytiker, Marxist, als radikaler Kritiker der Unterdrückung in Familie und Gesellschaft hervor. Seine Thesen von der sexuellen Revolution faszinierten die Jugend. Er interpretierte die Unterdrückung der Sexualität als Herrschaftsinstrument, das es zu beseitigen galt, seine Terminologien beeinflussten den studentischen Jargon jener Tage.

Gleichzeitig herrschte in der Reich-Rezeption eine eigenartige Spaltung. Der »frühe«, radikale, gesellschaftskritische sexuelle Revolutionär wurde sorgfältig getrennt vom »späten« Reich, also dem der Emigrationsphase ab 1933.

In linken Kreisen kursierte der Mythos, Reich sei in seiner Emigrationsphase, von der ansonsten kaum etwas bekannt war, schizophren geworden. Er habe sich mit völlig verrückten Dingen wie einer »kosmischen Lebensenergie« befasst und eigenartige Kästen gebaut.

Im Grunde wusste man nichts. Es existieren bis heute keine Anhaltspunkte für die Behauptung, dass Reich geisteskrank war. Es trifft allerdings zu, dass seine wissenschaftlichen Themen weit vom Mainstream »verrückten«. Offenbar handelt es sich bei diesem Psychose-Mythos um die frühe Erscheinungsform einer »urban legend«.

Bis Ende der 60er Jahre existierte in Deutschland kein einziges Buch von Wilhelm Reich auf dem öffentlichen Buchmarkt.

Die Antiautoritären machten sich deshalb an die Arbeit, die vergriffenen Bücher aus den 20er und 30er Jahren auf einfachen Vervielfältigungsmaschinen zu sog. »Raubdrucken« zusammen zu fügen. Auf dem Campus und in Studentenkneipen brachte man diese an den Mann und die Frau. Oft wuchsen diese Raubdrucke zu heimlichen Bestsellern heran.

(Fortsetzung folgt)

Freitag, 11. August 2017

SEINSORIENTIERTE KÖRPERTHERAPIE (189): Zur Entwicklung der seinsorientierten Körpertherapie

Nachdem ich in den bisherigen Teilen die theoretischen und praktischen Aspekte der seinsorientierten Körpertherapie dargestellt habe, wird es in den folgenden Teilen um die biografischen Hintergründe gehen, die zur Entwicklung dieser Methode geführt haben. Dabei geht es um die geistigen und persönlichen Einflüsse, um meine Lehrer, die Fragen und Antworten, die sich in den vielen Jahren meiner körpertherapeutischen Arbeit stellten und fanden. Neben anderen Einflüssen war es meine Begegnung mit dem Werk von Wilhelm Reich.

Die Sehnsucht nach dem "guten Vater"

Wenn es eine prägende geistige Begegnung gab, dann fällt mir sofort das Werk von Wilhelm Reich (1897–1957) ein. Die Lektüre von Freud als Heranwachsender hatte bereits mein Interesse für die triebhaften Qualitäten der menschlichen Seele wachgerufen. In Wilhelm Reich entdeckte ich den Kolumbus, der einen neuen Kontinent für mich beschritten hatte.

Wilhelm Reich 1944
 Da ich davon ausgehe, dass Wilhelm Reichs Werk heute kaum bekannt ist, ebenso wenig wie die Rolle, die er in der Nachkriegsära spielte, möchte ich ein wenig ausholen, um die Hintergründe dieser geistig-prägenden Einflüsse zu illustrieren.

Ich gehöre jener Generation von Nachkriegskindern an, die auf Familien und Erzieher stießen, die die Gräuel des Nationalsozialismus und des Krieges entscheidend prägten. Aufgrund schwerster Traumatisierungen zeigten sich Eltern und Lehrer in ihrem Gefühlsleben nicht nur gehemmt: Sie erwiesen sich als verstummt. Die Verdrängung der Schrecken des 3. Reiches erwies sich als programmatisch für die Atmosphäre in der Phase des »Wirtschaftswunders« der 50er und 60er Jahre. Ein Nebel des Schweigens hatte sich über die geistige Erziehung gelegt, in den Familien, den Kindergärten, den Schulen und Universitäten. »Wirtschaftswunder« bedeutete, dass »Wunder« nur im Äußeren, in der Wirtschaft und 1954 im Fussball stattfanden, innen, in den Seelen, herrschten Wüste und Verwüstung.

Das Aufbegehren der Jugend in den 60-er Jahren, die sog. »antiautoritäre Bewegung«, repräsentierte, unbesehen ihrer politischen Inhalte, eine Rebellion gegen die Väter als Repräsentanten von gesellschaftlichen Werten und Strukturen. Väter, verstrickt in Faschismus und Krieg, hatten diese natürliche Vorbildfunktion, jede Autorität verloren; angesichts eines Europas in Asche, von Auschwitz und der Standardausrede des »Nichts-Gewusst-Habens«. Nicht zufällig sprach man damals von der »antiautoritären Bewegung«.

Diese Verleugnung der eigenen, der realen Väter, begründete in den Heranwachsenden die Sehnsucht nach geistigen Ersatzvätern, nach den »guten Vätern«. Man fand sie in den Emigranten, denen, die von den Nazis verfolgt und deren Bücher verbrannt worden waren. In ureigenster Logik erkor man die überlebenden Verfolgten und Vertriebenen des Nazi-Regimes zu diesen positiven Autoritäten.
Diese Altersgruppe, welche Freiheit und Unabhängigkeit auf ihre Fahnen geschrieben hatte wie keine Generation zuvor, sie sehnte sich nach Vätern, die sie unverhohlen bewundern konnte!

Die positiven Identifikationsfiguren, die »guten Väter« fanden sich u. a. in den Protagonisten der Frankfurter Schule für Sozialpsychologie und deren Umfeld, Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Herbert Marcuse. Man fand sie in den wiederbeatmeten Galionsfiguren des Kommunismus, bei Karl Marx, Friedrich Engels und ihren Nachfolgern. Man fand sie in den Psychoanalytikern der Emigrationszeit, vor allem in deren marxistischem Flügel, Otto Fenichel, Siegfried Bernfeld und Wilhelm Reich.( 1970 erschien im Fischer Verlag eine zweibändige Ausgabe mit dem Titel Marxismus, Psychoanalyse, Sexpol, herausgegeben von Peter Gente, welche die Debatten zwischen Marxismus und Psychoanalyse Anfang der 30er Jahre eindrucksvoll dokumentierten.)

(Fortsetzung folgt)


Samstag, 5. August 2017

SEINSORIENTIERTE KÖRPERTHERAPIE (188): Wenn sich der Kreis des Mangels schließt ...

foto: vkd
Die Vignette illustriert, wie die körperlich-seeelische Wechselwirkung in der seinsorientierten Transformation funktioniert. Zunächst wird durch die reale Halterfahrung das kompensatorische Haltesystem der Charakter- und Körperpanzerung desorganisiert. Dies ermöglicht eine Reorganisierung der organismischen Selbststeuerungsfunktionen auf der Seinsebene. Die informelle Lebensenergie kann sich dort und von sich aus neu formieren. Die Herzcode-Informationen des Therapeuten verbinden sich mit der zellulären Ebene des Körpers des Klienten. Sie schließen damit einen aus der Kontinuitätserwartung der frühkindlichen Entwicklungen stammenden Kreis, der bis dahin offengeblieben ist.

Gleichzeitig verändern sich Körper- und Selbstbewusstsein. Dies ermöglichte bei Herrn A. den Abruf der organismisch-zellulären Information des väterlichen Rückhalts. Eine liebevollere Beziehung zu sich selbst zeigte sich als Spiegelung dieses Prozesses auf der Bewusstseinsebene.

Eine solche Veränderung der Selbstbeziehung erweist sich als funktionell identisch mit einer Veränderung der Objektbeziehungen. Sie repräsentiert einen Baustein der Persönlichkeitstransformation.

Herr A. der seit frühester Kindheit vaterlos aufgewachsen ist, zeigte sich geprägt durch deutliche Defizite väterlicher Halterfahrung. Dies zeigte sich in seiner Neigung, sich permanent zu überfordern, unrealistische Ansprüche an sich selbst zu richten, also im »innerseelischen Bürgerkrieg« (siehe dort) zu (über)leben. Durch die organismisch-energetische Erfahrung väterlichen Halts in unseren Sitzungen schloss sich dieser Kreis des Mangels, veränderte zunächst die Selbstwahrnehmung und dann die Selbstbeziehung. Der autoaggressive Charakterzug des Perfektionsanspruchs verblasste mehr und mehr. Stattdessen entwickelte er allmählich einen liebe- und verständnisvoller Umgang mit sich selbst.

Es ist kein Zufall, dass Begriffe wie »Versöhnung«, »Frieden« und »Heimat« in der seinsorientierte Transformation eine größere Rolle spielen als martialische Termini, wie sie sich in der Ausdrucksweise der Vegetotherapie als Urform der Körpertherapie andeuten. Die Sprache Wilhelm Reichs, der einer Generation angehörte, welche die Erfahrungen des Weltkriegs prägte, und diejenige, die sich mit dem Machen und den Machern auch im therapeutischen Kontext idenfiiziert, präsentiert sich martialisch («Widerstand durchbrechen«, «Panzer durchdringen«).

Die Stimme des Seins offenbart sich als Ausdruck von Bindung, Verbindung, als Intonation des Kernselbst. Die (Körper-)Sprache des Seins enthüllt sich in Schönheit und Klarheit als Sprache des Herzens. Sie weist auf einen Weg, der zu den Wurzeln unserer Existenz zurückführt: Zum Wunder jenes Augenblicks der Liebe aus dem Herzcode zweier Menschen, aus dem wir, was auch immer dann geschah, am Anfang entstanden und den wir ein Leben lang in uns tragen.

(Fortsetzung folgt)

Mittwoch, 2. August 2017

SEINSORIENTIERTE KÖRPERTHERAPIE (187): Transformation in Selbstbeziehung und Körperbeziehung

foto: vkd
Die seinsorientierte Selbstbeziehung, die sich aus solchen Erfahrungen herausschält, unterscheidet sich von den durch Leistung, Anspruch und Erwartung geprägten Selbstbildern des Menschen, dem »narzisstischen Ego«. In diesem Transformationsprozess lässt sich beobachten, wie die inneren Ressourcen einer Selbstbemutterung und Selbstbevaterung nicht nur eine neue Haltung zur eigenen Person, sondern auch zu anderen Menschen auslösen.

An die Stelle des »innerseelischen Bürgerkriegs« (ISB) tritt die Versöhnung mit diesen Teilaspekten der Persönlichkeit und ihren bioenergetischen Repräsentatanten. Diese Versöhnung bedeutet Frieden in der eigenen körperseelischen Existenz des Menschen, d. h. die Fähigkeit einer Selbstversöhnung. Damit wird das Fundament einer Selbststruktur geboren, die sich mit Begriffen wie »Heimat« oder »Heimat in sich selbst« beschreiben lässt. Die Bindung an und die Verbindung mit dieser Selbststruktur korrigiert und ergänzt die Ichstruktur als Träger der Selbst- und der Objektbeziehungen.

Das »Ich« wächst zum Protagonisten der Körperseele und des Kernselbst, der Stimme des Herzens, heran. Es korrigiert das narzisstische Konstrukt aus den phantasierten Blicken der Anderen. Eine Gestalt, das auf verzerrte Weise nach Liebe und Anerkennung lechzt, weil es nur zu dieser Art des Liebens fähig ist.

Selbstregulierungsmechanismen, die ihre Quelle in Herzcode-Informationen, Gefühlsleben und »innerem Kind« besitzen, steuern und erweitern die Aufgaben des Ich-Bewusstseins. Das Seelenleben kann sich in anderer Weise mit der äußeren Realität verbinden.

Die Beziehung zur inneren Wahrheit der Körperseele verändert das Verhältnis zu Körper, Körperlichkeit und ihren energetischen Vorgängen. Bio-emotionale Informationen, Intuition, Instinkt und die Stimme des Herzens lassen sich ergänzend und als Korrektiv in die Realitätswahrnehmung einbeziehen. Zellinformationen, die, wie wir sahen, den Herzcode-Informationen entsprechen, werden zur Quelle veränderter Selbst- und Weltwahrnehmung.

Herr A., ein Student in der Abschlussphase seines Psychologiestudiums, litt unter frei flottierender Prüfungsangst und entwickelte tiefgehende Zweifel, ob er der Herausforderung gewachsen sein würde. Dazu litt er unter ausgeprägten Schlafstörungen, verbunden mit dem Hang zu zwanghaften Grübeleien.
Eine lange Sequenz väterlicher Haltearbeit ermöglichte es schrittweise, die Halterfahrung auf organismisch-zellulärer Ebene zu verankern und schließlich abrufbar zu machen. Es versetzte ihn in die Lage, in angstauslösenden Situationen die »haltenden Hände« des Therapeuten als Symbol des Gehaltenwerdens durch den »guten Vater« organismisch und seelisch in seinem Rücken abzurufen. Also sie auch dann zu spüren, wenn sie real nicht vorhanden waren. Dies ermöglichte ihm, mit verändertem Körperbewusstsein und einer neuen Haltung zu sich selbst und gegenüber der Welt den Herausforderungen der Prüfungen erfolgreich zu stellen.


(Fortsetzung folgt)