Mittwoch, 29. April 2020

SEINSORIENTIERTE KÖRPERERFAHRUNG (267): Sisyphos oder die Sucht nach Spiegelung

Franz von Stuck: Sisyphos

Sisyphos wurde als der verschlagenste aller Menschen in der griechischen Mythologie beschrieben, überlistete und verspottete er doch die Götter. Er erhob sich über sie, ihre »göttergebenen Regeln«. Sisyphos gerierte sich lieblos, grandios; ein selbstbezogener Narziss, für den weder Bindung noch menschliche Wärme etwas galten. Ein kalt berechnender Vernunftmensch, nur auf seinen eigenen – scheinbaren – Vorteil ausgerichtet.

Am Ende holte ihn, wie jedes Lebewesen, der Tod. Der Totengott, den er vorher ebenfalls verspottet hatte, legte ihm eine schwere Strafe auf. Diese Sanktion ist das, was man als »Sisyphosarbeit« bezeichnet.

„Und weiter sah ich den Sisyphos in gewaltigen Schmerzen: wie er mit beiden Armen einen Felsblock, einen ungeheuren, fortschaffen wollte. Ja, und mit Händen und Füßen stemmend, stieß er den Block hinauf auf einen Hügel. Doch wenn er ihn über die Kuppe werfen wollte, so drehte ihn das Übergewicht zurück: von neuem rollte dann der Block, der schamlose, ins Feld hinunter. Er aber stieß ihn immer wieder zurück, sich anspannend, und es rann der Schweiß ihm von den Gliedern, und der Staub erhob sich über sein Haupt hinaus.“(Homer: Odyssee, 11. Gesang, 593–600)

Gemahnte nicht jede Anstrengung, jene Liebe in der Außenwelt zu finden, die man in sich selbst nicht »wahr«zunehmen vermochte, an das Schicksal des Sisyphos? Der Schmerzkörper geriet zur Triebkraft dieses Zwangs, des Zwangsverhaltens, der Qual, des Leids, dieser nicht endenden Geschichte ohne Happyend.

Die Sucht nach Spiegelung steht als Mal auf der Stirn geschrieben. Ein Display, das dazu auffordert: »Bitte folgen!« Folge meinen Ansichten, Vorlieben, Werten, Geschmäckern, Meinungen, Gedanken, Erzählungen usw.

Indem Sisyphos seine ganze Energie auf die Außenwelt, auf äußere Erfolge richtete, blieb er seiner inneren Ressourcen beraubt, sich selbst ein Leben lang fremd. So war er verdammt dazu, weiterzusuchen. Verbissen, zwanghaft, qualvoll, ein willfähriges Opfer seiner Weltkonstruktion.

Eigenartig. In mir wuchs allmählich die Erkenntnis, dass Narzissmus, die Gier nach den anerkennenden Reaktionen der Anderen, verbunden mit innerer Beziehungslosigkeit, weit mehr darstellte als die Pathologie einer »Persönlichkeitsstörung«, wie ich es gelernt hatte. Sie stellte die vorherrschende Lehrmeinung seit Kohut dar. Ich gewann den Eindruck, dass Phänomene des Narzissmus in jeder Persönlichkeit und in jeder Entwicklungsphase aufschienen, in unterschiedlichen Erscheinungsformen. Sie präsentierten sich ubiquitär, überall um mich herum.

Nahm das niemand wahr? Wenn selbst die tiefenpsychologischen Lehren den Wald vor lauter Bäumen nicht sahen, dann musste hier etwas im Dunkeln geblieben sein. Zeigte sich eine Schattenwelt, die nicht ebenso in der Geschichte der Psychotherapie wirkte?

In der Tat. Grandiositätsphantasien und befremdliche Prämissen zogen sich wie ein roter Faden von Freud über Jung und Reich bis in die aktuelle Generation von Therapeuten. Beispielsweise schrieb ein noch unbekannter 28-jähriger Freud 1885, lange vor der Psychoanalyse, an seine Verlobte: »Ich habe alle meine Aufzeichnungen seit 14 Jahren und Briefe, wissenschaftliche Exzerpte und Manuskripte meiner Arbeiten vernichtet ... Die Biographen aber sollen sich plagen, wir wollen’s ihnen nicht zu leicht machen. Jeder soll mit seinen Ansichten über die ‚Entwicklung des Helden‘ Recht behalten, ich freue mich schon, wie die sich irren werden«. (zit. Nach Ernest Jones: Das Leben und Werk von Sigmund Freud, Band 1: Die Entwicklung zur Persönlichkeit und die großen Entdeckungen 1856–1900. Bern, Stuttgart 1960, S. 10 f.)
Ähnlich bei Jung und Reich lassen sich Beispiele für Grandiositätsphantasien, Egomanie und Messianismus finden, Letzterer phanasierte sich in seiner späten Lebensphase entweder als Außerirdischer oder neuer Christus. Ein gewisser Grad von Berühmtheit kaschiert allzu bald die dahinter verborgene Grandiosität. Vielleicht bildet die Egomanie eine Voraussetzung jeder Entwicklung zur Popularität.

(Fortsetzung folgt)

Donnerstag, 23. April 2020

SEINSORIENTIERTE KÖRPERERFAHRUNG (266): Schmerzkörper, emotionale Pest und Spiegelungssucht

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Ich beschreibe hier Vorgänge, in dem der die sekundäre Schicht bzw. der  Schmerzkörper getriggert werden. Sie lassen sich gleichermaßen im individuellen wie im sozialen Kontext beobachten. Die Besetzung von Macht und Geld wäre hier ebenso zu nennen wie jede Form des Fanatismus und pathologischem Sendungsbewusstseins. Auf einer unbewussten Ebene dient jede Form von Macht dem Schutz des Schmerzkörpers vor Angriffen, die zu einem Aufbrechen der inneren Wunden führt. Geld, als wesentliches Machtinstrument, dient der gleichen Funktion.

Verachtung und Hass nähren sich aus dem Schmerzkörper, manifestieren sich grandiosen Konstrukten des Ego-Verstands, in denen die eigene Weltsicht mit aller Gewalt zur Absoluten erhoben wird. Sie entladen sich beispielsweise in fundamentalistischen Feldzügen, in Gewaltherrschaft und Terror.

Häufig verbinden sich die Schmerzkörper einer Gruppe von Menschen, definieren ein gemeinsames Hass-Objekt. Solche Vorgänge beginnen beim »Mobbing«, treten bei den sog. »Wutbürgern« zum Vorschein und enden im rechtsextremen oder islamistischem Terror. Der innerseelische Bürgerkrieg bildet auf diese Weise den Nährboden für den realen Bürgerkrieg. Nicht nur die Geschichte, auch die Gegenwart ist reich an Beispielen für dieses Phänomen.

Die soziale Verbindung der Schmerzkörper Einzelner funktioniert als Dominoeffekt. Reich nannte es »emotionale Kettenreaktion« oder »emotionale Pest«. Das phylogenetische Erbe, das sich in der gesellschaftlichen Natur des Menschen ausdrückt, präsentiert in solchen Erscheinungsformen seine Schattenseite. Ausgrenzungsprozesse von Minderheiten, ebenso die Zerstörung der Umwelt, gehen zwangsläufig einher mit der Verleugnung von Mitgefühl im Seelenleben des Einzelnen. Die jeweilige Ideologie, d. h. die Rationalisierungs- und Erklärungsmuster, setzt eine Attraktion von Zugehörigkeit in Gang und stabilisiert sich, indem sie andere Menschen zum Sündenbock erklärt. Eine Zugehörigkeit, die auf der Verbindung der Schmerzkörper beruht, welche sich in der jeweiligen Erzählung wiederfindet.

Das, was im Seelenleben des Einzelnen in Gestalt des »innerseelischen Bürgerkriegs« aufscheint, indem Gefühle oder Bereiche der Seelenlebens ausgegrenzt, verachtet oder diskriminiert werden, potenziert sich im sozialen Zusammenhang als gesellschaftliche Gewalt.

Kommen wir auf unser Gedankenexperiment zurück. Die Bezugsperson, die ihr Kind mit rationalen, beziehungslosen Erklärungen zu beruhigen versucht, ist ebenso befangen wie gefangen. Gebannt in ihrem eigenen psychischen Universum, zwischen Verstand und Schmerzkörper. Das Gefängnis ihrer Persönlichkeitsstruktur blockiert die Einfühlung in das seelische Erleben ihres Kindes.

Schmerzkörper, »sekundäre Schicht« und der damit verwobene innerseelische Bürgerkrieg verschließen die Ressourcen des Herzens und der liebenden, mitfühlenden Natur in uns. Wenn diese Verbindung blockiert ist, stehen nur Selbstentfremdung, Identifizierung mit Schmerzkörper und Ego-Verstand als Instrument der Selbst- und Weltwahrnehmung zur Verfügung.

Der verlorene Kontakt zum Selbst zieht eine tiefe Verunsicherung und Haltlosigkeit nach sich. Die Suche nach dem Verlust löst Sehnsucht nach Heil und Heilung aus. Sie wird zum Antrieb für die Sucht nach Aufmerksamkeit, Spieglung, Bestätigung.

Da der Weg in das innere Universum durch den Schmerzkörper versperrt ist, richten sich diese Anstrengungen nur noch auf die Außenwelt. Was man sich selbst nicht gibt, wird nun in den Reaktionen seiner Lebensumwelt herbei gesehnt. Dies erinnert an ein Kind, das seine Bindungsbedürfnisse dort adressiert, wo es Antwort erhofft.

Selbstbeziehungsdefizite entwickeln sich gleichermaßen zum Motor jener Verhaltensmuster, in denen die Suche nach Selbst-Bestätigung aufscheint. Dabei hat die Außenwelt die Aufgabe zu spiegeln, was man für seine Persönlichkeit hält: Jene Konstruktion, jene Erzählung, die man als Identität, »Ich«, setzt.

Doch Heilung findet nicht statt. Insgeheim spürt man, dass da etwas nicht stimmt. Wer sich selbst nicht liebt, nicht mit sich in Einklang lebt, der wird kein Vertrauen dazu gewinnen, von jemand anderem geliebt zu werden. Misstrauen und innere Selbstentfremdung verhindern es. Die Suche, Antwort von Außen, äußerliche Antworten zu erhalten, geht weiter. Das Spiegelungsbedürfnis entwickelt sich zur Sucht, zum Persönlichkeitsmuster, zum Lebensinhalt. Es gemahnt an die Strafe des Sisyphos.

(Fortsetzung folgt)

Sonntag, 19. April 2020

SEINSORIENTIERTE KÖRPERERFAHRUNG (265): Innerseelischer Bürgerkrieg und Schmerzkörper

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Die inneren Konflikte werden zum Teil der Persönlichkeit, manifestieren sich als »innerseelischer Bürgerkrieg«. Denn die abgelehnten, dem Verstand geopferten Seelenanteile bleiben unbequem. Sie wehren sich gegen die Diktatur des Rationalen, sind nicht auszulöschen. Sie verändern ihren Charakter, indem sie sich in wachsendem Umfang mit dem Schmerz der Ungeliebten vereinen. Erwachsen zu dem, was Eckart Tolle als »Schmerzkörper« bezeichnet.

Der Schmerzkörper wird im menschlichen Verhalten wahrnehmbar. In Beziehungen vermag er auf eine Weise getriggert zu werden, die verblüfft. Plötzlich verwandelt sich ein scheinbar friedlicher Mensch in sein schieres Gegenteil, verdunkelt sich, beißt, ohne vorher zu bellen oder zieht sich in sein Schneckenhaus zurück, erstarrt, bleibt unerreichbar.

Sei es, dass eine alte, unbewusste Wunde berührt, sei es, dass eine lapidare Bemerkung als existentieller Angriff erlebt wurde: Der Himmel verdüstert sich, ein destruktives emotionales Gewitter bricht hervor oder ein lebendiger Mensch erstarrt zur Salzsäule, verliert sich in Ritualen des Selbsthasses.

Betrachten wir diesen Vorgang genauer, wird erkennbar, dass solche überschießenden Aktions- im Grunde Reaktionsmuster darstellen. Ein Blick, eine unbedarfte Bemerkung, eine Geste reichen aus, um den Schmerzkörper zu aktivieren, um als existentielle Bedrohung wahrgenommen zu werden.
In Wahrheit sind es unbewusste schmerzvolle Erinnerungen, die getriggert werden, verdrängte Gefühle, die an die Oberfläche drängen. Sie richten sich gegen die Außenwelt, gegen andere, aber ebenso gegen die eigene Person: ersteres wäre die aggressive, letzteres die depressive Variante.

Die Intensität dieser emotionalen Reaktionen schenkt uns einen wertvollen Hinweis: Die kindliche Seele nahm sie damals schon existentiell bedrohlich wahr und ihre Anpassung an die Kultur ist nicht nur ein überaus schmerzhafter Prozess, sondern ein niemals fertiggestelltes Endlager des Leids: der Schmerzkörper.

Die sog. »soziale Maske«, wie Reich sie bezeichnete, repräsentiert jenen Teil von Zivilisierung, der normalerweise vor den allzu eruptiven Impulsen der »sekundären Schicht« schützt. Persönliche und soziale Krisen führen dazu, dass dieser Schutz nur unzureichend oder gar nicht mehr funktioniert. Kriminalität, Terrorismus, Rassismus, Krieg und Bürgerkrieg betrachte ich als Erscheinungsformen entfesselter »sekundärer Schicht« im sozialen Kontext.

(»Sekundäre Schicht« und »Schmerzkörper« setze ich hier identisch. Als sekundäre Schicht bezeichnete Reich das Sammelsurium all jeder unerwünschten und verdrängten Gefühle, die normalerweise unter der »sozialen Maske« verborgen bleiben und unter krisenhaften Umständen zum Ausdruck gelangen.)

(Fortsetzung folgt)

Montag, 13. April 2020

SEINSORIENTIERTE KÖRPERERFAHRUNG (264): Der Großinquisitor des Gefühlslebens

 
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Schauen wir uns das Ritual der "Erklärung“ genauer an. In ihren Aussagen ist die Wahrheit über unsere ganze Kultur enthalten: Den Kindern wird vermittelt, dass es Erklärungen für Gefühle (hier für die Angst) gibt oder geben muss. Solche Vorstellungen vermitteln den Eindruck, als ob Emotionen nach dem Ursache-Wirkungs-Prinzip funktionieren. Es suggeriert, dass die logisch-rationale Gesetzmäßigkeit für ganze Gefühlswelten gilt. Typische Fragen lauten: »Warum weinst du? Warum hast du Angst? Warum bist du jetzt wütend?«

Eltern kennen die kindliche »Warum-Phase« zwischen dem 3.–4. Lebensjahr. Hier manifestiert sich die Absicht, die innerseelische Wirklichkeit mit der Wahrnehmung der äußeren Welt in Einklang zu bringen, beide Bereiche den Gesetzmäßigkeiten der Ursache-Wirkung-Logik zu unterwerfen. Wie nervtötend oder belustigend dieser Prozess auf Erwachsene auch wirken mag, er repräsentiert die besessene bis verzweifelte Anstrengung, die Realitätskonstruktion seiner Lebensumwelt  einzustudieren. Denn in dieser Lebensphase findet nicht nur die sog. »Ich-Entwicklung«, sondern ebenso der Prozess der Identifizierung mit der kulturellen Weltkonstruktion ihren Abschluss.

Dazu gehört die Vorstellung, dass Gefühle eine logische Ursache zu besitzen haben. Denn diese gelten nicht als unabhängig vom Denken, nicht als spontaner, vitaler Ausdruck des Selbst im Hier und Jetzt, nicht als natürliches Geschenk der Seele für Selbstregulation und Selbstheilung. Nein, Gefühle sind der Kontrolle des Verstandes zu unterwerfen. Wenn sie schon da sind, benötigen sie eine rationale Legitimation, ein Motiv. Ein Motiv, wie es in jedem Kriminalfilm der Täter benötigt, um verurteilt zu werden.

Der Verstand führt sich als Herrscher über das Gefühlsleben auf, als Großinquisitor der emotionalen Wirklichkeit. Der Ego-Verstand erklärt das eine Gefühl für akzeptabel, das andere für negativ, bedeutungslos, unwichtig, peinlich, animalisch oder wie auch immer das Urteil lautet.

Das Ganze ließe sich als ein „innerseelisches Patriarchat“ bezeichnen: Der Verstand, die Ratio, die Vernunft, die Wissenschaft usw. sind alles; Gefühl, Intuition, Instinkt, Körper, das spontan Lebendige, Authentische, die Natur in uns bilden das, was es zu beherrschen und zu unterwerfen gilt. Genauso sieht unsere Welt noch aus.

Dies alles lässt erahnen, wie grundlegend der Konflikt zwischen innerem Erleben und sprachlicher Veräußerung, Fühlen und Denken, Herz und Verstand angelegt wird.

Zudem bilden sich unterschiedliche persönlichkeits- und kulturspezifische Ausprägungen heraus, die es zu differenzieren gilt. Individuell dürfte das Verhältnis zwischen einfühlsamen Reaktionsmuster und verbal-logischen Kontaktabbrüchen prägend sein. Im kulturellen Kontext ließen sich Einflussfaktoren dessen entdecken, was als »Mentalität« bezeichnet wird.

Wie manche Lebensweisen kühl und nüchtern daher kommen, andere als emotional und temperamentvoll, so erscheint es plausibel, dass hier unterschiedliche Erziehungsstile auf einen Landstrich, ein Volk oder eine Nation einwirken. Identifizierungen mit gewissen Mentalitäten gelten unbewusst dem Erziehungsstil, den man selbst durchlaufen hat, stellen demnach kein Mysterium dar.

(Fortsetzung folgt)

Samstag, 11. April 2020

SEINSORIENTIERTE KÖRPERTHERAPIE (263): Reaktionsmuster auf kindliche Angst

foto: pixabay
Stellen Sie sich folgende Schlüsselszene vor: Eine Mutter geht mit ihrem Kleinkind die Straße entlang. Plötzlich erschüttert ein tieffliegender Hubschrauber die Stille. Das Kind, das dies zum ersten Mal erlebt, erschrickt und versteift sich, weint laut auf vor Angst.

Eine Mutter kann u. a. auf dreierlei Weise reagieren

•    Die instinktive Reaktion wäre, ihr Kind auf den Arm zu nehmen, zu halten und zu umarmen.
•    Ein anderes vorstellbares Reaktionsmuster wäre, das Kind in seiner Angst zu ignorieren und keinerlei Resonanz zu zeigen (»Kontaktlosigkeit«).
•    Eine dritte Variante wäre eine »verbal-logische Reaktion«: Die Bezugsperson reagiert mit Erklärungen, z. B.: »Das ist doch nur ein Hubschrauber. Da brauchst du doch keine Angst zu haben!«

I.
Die instinktive Variante wäre die gattungsgeschichtlich naheliegende. Der Bindungsforscher John Bowbly, leider erinnere ich mich nicht mehr, wo in seinen Büchern ich die Stelle gelesen habe (ich bitte um Nachsicht, falls hier einige Details ungenau wiedergegeben werden), beschrieb die Szenerie einer Affenhorde im Urwald. Dabei löste ein Tiefflieger Panik unter den Jungtieren aus, die zum ersten Mal mit diesen lauten Geräuschen konfrontiert wurden. Die jungen Affen sprangen instinktiv in den Arme der älteren Tiere, die sie umarmten und hielten, bis die Angst verebbte. Bemerkenswert war, dass es sich um ältere, lebenserfahrene Affen handelte. Verwandtschaft oder Elternschaft spielte keine Rolle.

II.
Im Szenario der Kontaktlosigkeit wird sich das Kind halt- und resonanzlos in seinen Gefühlserleben erfahren. Häufen sich derartige Erfahrungen, mangelt es u. a. an dem, was der Pionier des Säuglingsforschung Daniel Stern als »affect attunement«. Stern hat den Begriff Attunement geprägt, einen Begriff, für den im Deutschen meist der Terminus Rapport oder Kontingenz verwendet wird. Die Begrifflichkeit ist schwer übersetzbar und meint den sehr komplexen Vorgang, wie zwei Menschen sich in ihrem Rhythmus und ihren Gefühlen aufeinander einstimmen und dann innere Zustände miteinander teilen. Anzuführen wäre hier unter anderem das Spiel mit amodalen Entsprechungen zwischen Mutter und Kind: Die Mutter setzt Bewegungen und freudige Gestimmtheit des Kindes in Laute, Rhythmus, Kopfnicken etc. um. Dieses Teilen des inneren Zustandes bewirkt das Herstellen von Gemeinsamkeiten über spielerische Interaktion auf einer amodalen Ebene.« (Aus: Wikipedia, Artikel zu Daniel Stern – Psychoanalytiker)

Ich übersetze es mit »affektive Einstimmung«. Hier verorte ich eine die Quelle dessen, was ich als »Spiegelungsbedürfnis« bezeichne.

Defizite an Resonanz und Selbstwirksamkeit werden zur prägenden, persönlichkeitsbildenden Erfahrung. Diagnostisch lassen sich hier Persönlichkeitsstrukturen zuordnen, die in der Psychopathologie als »frühe Störungen« zusammengefasst werden.

Es lässt sich leicht nachvollziehen, dass die Erfahrung, sich haltlos in seinen Emotionen zu erleben, tiefe Spuren im Seelenleben hinterlässt. Eine lebenslange Suche nach Spiegelung, die bei ausgeprägten Frühstörungen ins Auge fällt, kann damit in Zusammenhang gesehen werden.

III.
Die 3. Variante betrachte ich als charakteristisches Prägungsmuster, welches für das Hintergrundszenario des »innerseelischen Bürgerkriegs« maßgeblich ist. Es findet sich typischerweise in bürgerlichen Sozialschichten, erscheint prägend für die vorherrschenden Persönlichkeitsmuster der westlichen Gesellschaften.

Hier besteht die Reaktion nicht in einer energetischen Zuwendung, sondern in der energetischen Abwendung. Die Bezugsperson entzieht sich dem Kontakt mit der Angst des Kindes, indem sie sich auf die Ebene der Sprache, des analytischen Denkens und der Erklärungen begibt. Stellt man die Frage, was sie dazu motiviert, ist unschwer zu erkennen, dass es der eigenen Angstabwehr dient. Es spricht vieles dafür, dass die Bezugsperson ähnliche Lektionen in ihrer eigenen Kindheit gelernt hat.

Von Generation zu Generation werden u. a. folgende »Lektionen für das Leben« vermittelt: »Ich ignoriere deine Angst, sie ist belanglos, berührt mich nicht.«, »Du musst deine Gefühle nicht so wichtig nehmen«, »Meine Erklärungen sind bedeutsamer als Angst« und allgemein: »Des Menschen Worte sind wichtiger als jedes Gefühlserleben«. 

(Fortsetzung folgt)

Mittwoch, 8. April 2020

SEINSORIENTIERTE KÖRPERTHERAPIE (262): Vorbemerkung zur langen Pause und Exkurs

foto: vkd

Es ist erstaunlich und motivierend, dass trotz der Regungslosigkeit, was Posts von mir betrifft, es einen ständigen Fluss von Besuchern und bisweilen sogar Abonnenten gab. Danke dafür.
Nicht zuletzt die Corona-Krise, die gegenwärtig bisher Verdecktes an die Oberfläche trägt, bietet mir ein Zeitfenster für eine neue Runde von Postings.
Immerhin jährt sich im Mai ein ganzes Jahr, seit ich hier etwas veröffentlichte. Erstaunlich. Erstaunlich aber auch, dass es ganze 261 Beiträge waren, die wohl immer noch hier da trotz der langen Pause ihre Leser fanden. Wie auch immer, jetzt fällt der Startschuss zu einer neuen Runde.
Wie zuvor entstammen die folgenden Veröffentlichungen den Vorarbeiten zu meinem noch unveröffentlichten Büchern. Ich habe seit einiger Zeit damit begonnen, den 1. Band noch einmal vollständig zu überarbeiten und zu erweitern, bevor er in Buchform der Öffentlichkeit präsentiert wird. Es war gut, das Manuskript über viele Monate nicht mehr anzufassen. Der zeitliche Abstand löste neue schöpferische Impulse aus, die, so hoffe ich, meine Betrachtungen in hellerem Licht erscheinen lassen.  
Die Postings, mit denen ich heute beginne, entstammen diesen textlichen Erweiterungen. Sie beginnen mit einem Exkurs zum Thema „Innerseelischer Bürgerkrieg“.
Wie immer freue ich mich über Rückmeldungen und wünsche meinen Lesern eine anregende Lektüre.

DIE WUNDE DES UNGELIEBTEN

»The First Cut is the Deepest«
(Cat Stevens)

»Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort.
Sie sprechen alles so deutlich aus.
Und dieses heißt Hund und jenes heißt Haus,
und hier ist der Beginn und das Ende ist dort.«
(Rainer Maria Rilke)

Im »innerseelischen Bürgerkrieg« werden Persönlichkeitsanteile unterdrückt, abgewertet, abgespalten, ignoriert. Dabei unterwirft der Galeerentreiber des Ego-Verstands Körper und Seele gnadenlos seinen Wirklichkeitskonstrukten. Dies geschieht von frühester Kindheit an. Die Tiefenpsychologen sprechen von »Ich-Entwicklung«.
Dieser Prägungsprozess, einhergehend mit der Sprachentwicklung des Kindes, beinhaltet die Sonderung von Seele und Verstand.
Als »Seele« definiere ich all jene angeborenen menschlichen Potentiale und Zugänge zum Leben, die nicht dem logischen Denken zuzuordnen sind: die Welt des Herzens, der Gefühle und Emotionen, die instinktiven und intuitiven Fähigkeiten, die Eingebungen, Visionen und andere sog. »übersinnliche Wahrnehmungen«. Gleichzeitig umrahmt der Begriff »Seele« die Dualität von psychologischer und spiritueller Natur des Menschen.
Das Kind lernt sukzessive, sprachlichen Erklärungen, Definitionen und Begriffen mehr zu vertrauen als seiner innerseelischen Wirklichkeit. Dies geschieht nicht ohne Dramen, das Kind erfährt all dies in  schmerzhafter Weise. Ein Schmerz, den es verdrängt, um zu überleben. Das charakterbildende Resultat bildet die »Selbstentfremdung«: Das Selbst bleibt dem Einzelnen von da an fremd. Die Suche nach dem Verlust manifestiert individuelle Vorstellungen des Absoluten: religiöse Gewissheiten, politische Ideologien und die unzähligen kleinen alltäglichen Urteile und Spiegelungen, die in der äußeren Welt denjenigen Halt verheißen, der in der inneren Welt verloren gegangen ist.

(Fortsetzung folgt)