Montag, 31. Dezember 2018

SEINSORIENTIERTE KÖRPERTHERAPIE (254): Wege zur Erleuchtung

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Bemerkenswerte Übereinstimmung zwischen östlicher und westlicher Mystik fand sich in dem Motiv des Weges (sanskrit Marga, japanisch do, chinesisch tao): »Der klassische Dreischritt begegnet ins  vielen Zeugnissen mystisch-religiöser Erfahrung. Er ist zum Beispiel bei Bernhard von Clairvaux vorgebildet. Der unterscheidet die erste Stufe der Reinigung bzw. der Reue über die Verfallenheit des sündigen Menschen, die zweite Stufe der Erleuchtung und schließlich die dritte Stufe, die zugleich das Ziel des mystischen Weges bezeichnet: die Vereinigung (unio mystica).«[Wehr, Gerhard (2006), S. 33]

Die erste Stufe des mystischen Weges, die Reinigung, via purgativa, erinnerte unmittelbar an das Phänomen der energetischen Katharsis, wie ich sie aus der reichianischen Körpertherapie, der Crisis bei Mesmer und ähnlichen Methoden kannte. Der befreiende Effekt der Katharsis bestand darin, dass blockierte Emotionen, vegetative Ausdrucksbewegungen und zurückgehaltene Impulse in befreiender Weise artikuliert werden. Man fühlte sich energetisch und seelisch gereinigt, erleichtert und entspannt, häufig dem Herzen als Zentrum tief empfundener, transpersonaler Liebe verbunden.

Mir sind keine Schilderungen kathartischer Erfahrung von Mystikern des Mittelalters in Detail bekannt, die vorhandenen Zeugnisse deuten an, dass es sich um ähnliche Phänomene handelte. Hatten Grenzerfahrungen jeder Art, Selbstkasteiungen und religiöse Praktiken hier einen Einfluss? Welche Anteile besaßen Beten und andere christliche Rituale an solchen kathartischen Erlebnissen? Hier lässt sich nur spekulieren.

Offensichtlich erscheint, dass durch wiederholte Erfahrungen dieser Art sich eine Erhellung des inneren Lichts von den den verdunkelnden Schatten des Egos entfaltete. Ein veränderter Blick auf die Wirklichkeit eröffnete sich: »Selig sind, die reinen Herzens sind, denn sie werden Gott schauen.«(Matthäus 5, 8)

Diese »via illuminativa« entsprach jenem Aufwacherlebnis [Wehr, Gerhard (2006), S. 35], in dem die Natur des Herzens als Instanz der Verbindung mit dem ganzen Sein aufscheint und präsent wird.

Erleuchtungserlebnisse bilden kein Privileg östlicher spiritueller Wege, sondern finden sich ebenso in der christlichen Tradition. Sie scheinen ähnlich eng an die geistige Welt des Christentums angebunden zu sein wie die der Sufis an den Islam.

Die Gnade der Erleuchtung wurde in der dritten Stufe des mystischen Weges gekrönt durch die »via unitiva« oder »unio (communio) mystica«, die mystische Gemeinschaft mit Christus, oft als »mystische« oder »geistliche« Hochzeit bezeichnet. Die Vereinigung mit Christus und Gott repräsentiert das Ende des Weges der Gottsuche, in ihr vollzieht sich Gottfindung.

Es wird deutlich, dass der mystische Weg, das mystische Erkennen einhergeht mit tiefgreifenden Veränderungen der Person. Dies gilt für alle Stufen oder Entwicklungsschritte.

(Fortsetzung folgt)

Dienstag, 25. Dezember 2018

SEINSORIENTIERTE KÖRPERTHERAPIE (253): Mystik und mystische Wege

Foto: vkd

Wie bei vielen meiner Zeitgenossen führte mein Interesse, mehr über die Mystik zu erfahren, zunächst in den Osten. Kahlil Gibran und sein Prophet [Gibran, Khalil (1973)] war seit langem ein Bestseller, Osho mit seiner multimedialen Präsenz in den 80er und 90er Jahren gaben erste Hinweise. Die christliche Mystik des Mittelalters, geprägt von Meister Eckhart, Hildegard von Bingen, Heinrich Seuse, Johannes Tauler und einer Vielzahl von Frauen, die wenige Spuren hinterließen, blieben mir lange mit ihren Werken unbekannt.

Die fernöstlichen Ansätze der stillen und der Bewegungsmeditationen, der Atem- und Reinigungstechniken, des Yoga etc. erschienen näher und naheliegender als jene Praktiken des Christentums, die den Weg nach innen ermöglichen.

Überhaupt erstaunte es, dass es, nicht nur bei mir selbst, so wenig Verbindung zu den mystischen Traditionen des Christentums gab. Woran lag das? Ähnlich wie die Sufis im Islam wurden die christlichen Mystiker immer wieder der Häresie bezichtigt, bekämpft und verfolgt. Am Ende hinterließen sie wenige Spuren im kollektiven Gedächtnis, was vermutlich mit der Zäsur in Zusammenhang stand, welche mit der Reformation einherging.

»Keine äußere Autorität, auch kein kirchliches Lehr- oder Führungsamt bindet oder bestimmt den Mystiker. Viel wichtiger ist ihm jener ‚helle Schein‘, jene sein ganzes Leben erfüllende Erfahrung, die keine Stütze oder Rechtfertigung von außen her nötig hat ...
Mystik ist spirituelle Erfahrung, und zwar eine Erfahrung, die der Geist (Pneuma) Gottes schenkt und die jeweiligen Grenzen des menschlichen Erkennens, Begreifens, Fühlens und schließlich auch des Wollens sprengt; eine Erfahrung, die auf diese Weise den Menschen in seiner Wesensmitte verändert.« [Wehr, Gerhard (2006), Die deutsche Mystik S. 25]

Es waren folgende Aspekte, die ins Auge sprangen und für alle mystischen Traditionen zutrafen:

•    Mystik tritt als Gegenbewegung zum religiösen Mainstream, zur herrschenden Lehre, der Kirche auf. Trotz vorhandener Schwankungen ihres kulturellen Einflusses und Akzeptanz bildeten Mystiker eine Minderheit.
•    Der spirituelle Weg nach innen bedarf, wie im Zitat angedeutet, keiner äußeren Form oder Autorität. In dieser Hinsicht besitzt er durchaus anarchistische, anti-etatistische Wesenszüge, was ihn in den Augen der Herrschenden schwerer kontrollierbar macht.
•    Beides, die Tatsache der Minderheitsströmung und ihr anarchistischer Charakter, macht die Mystik historisch anfällig für jede Art von Diskriminierung, Verfolgung und der damit einhergehenden Organisationsstrukturen von Orden, Geheimgesellschaften und Sekten.
•    Der Mystiker strebt nach der Erfahrung des Göttlichen in der Seele, nicht nach der Erklärung Gottes auf der Ebene des Verstandes. Er sucht die Erleuchtung durch das Licht im Herzen, nicht nach seiner mathematisch-physikalischen Formel. Er fühlt sich angezogen von der Ekstase der Wahrheit, nicht von seiner theologischen Definition. Er wendet sich von der Dominanz des Ego-Verstandes ab und der Stimme des Herzens zu.
•    Mystische Erfahrung bleibt in der Tiefe ein individuelles Erleben, im Gegensatz zu Gottesdienst und Liturgie der Kirche. Es geschieht oder es geschieht nicht. Keine Repräsentanz, keine Stellvertretung, keine ritueller Akt kann diese »Selbst-Erfahrung« ersetzen. Das mystische Erleben erweist sich so als Akt absoluter Hingabe an die innere Seelenwelt.

(Fortsetzung folgt)

Sonntag, 2. Dezember 2018

SEINSORIENTIERTE KÖRPERTHERAPIE (252): Von der großen Wortklimakatastrophe

foto: vkd
Und heute? Ist Poesie in unserer narzisstischen Ära ein atavistisches Überbleibsel einer vergangenen Ära? Erstaunlicherweise findet sich im Internet eine ganze Menge Poesie, schaut man genauer hin. Ein Widerspruch auf den ersten Blick: Denn im Grunde repräsentiert Poesie/Lyrik genau das Gegenteil von dem, was uns, im Alltag und speziell im globalen Dor, tagtäglich umgibt: Atemlosigkeit, Gehetztsein, Überfliegen von Informationen, Unruhe.

Dazu passt Lyrik gar nicht, oder?

Poesie verlangt Aufmerksamkeit. Um ihr zu begegnen, bedarf es der Konzentration, der Achtsamkeit, sie verlangsamt Gerichtetsein: nicht das periphere Vorbeihuschen, das Erfassen von möglichst vielen Informationen in optimal kurzer Zeit ist hier gefordert, sondern die Kontemplation, die Versenkung, die Achtsamkeit für Worte oder einen einzigen Satz.

Poesie fordert Denk- und Assoziationsfähigkeiten heraus, spricht beührbare Dimensionen der Seele an und vor allem: den Kontakt dieser Persönlichkeitsfundamente, die Verbindung von Herz/Intuition/Gefühl und Verstand/Wissen/bewusster Erfahrung.

Poesie ruft nach der Stille – die Stille um uns und die Stille in uns, denn nur in der Stille wird Resonanz der leisen Töne hörbar. Das steht im Gegensatz zum Lärm unserer Zeit.
Poesie ist die kleine Schwester der Phantasie, der Utopie, der Transzendenz der Realität, sie dringt über das hinaus, was ist, sie sucht nach Antworten aus den Tiefen der Inspiration, des intuitiven Wissens, dessen Spielräume und Rathäuser in dieser Welt seltener werden.

Sicher ließen sich manche andere Aspekte hier nennen, die allesamt belegen, wie peinlich, wie vorsintflutlich Poesie in diesen atemlos-modernen Zeiten ist, ein ständiger Quell des Fremdschämens.
Ist das alles, was dazu zu sagen ist?

Nein. Es gibt ja bei dieser Bestandsaufnahme Elemente, die das Gesagte in ein anderes Licht tauchen.
Beginnen wir mit der optimistischen Feststellung, dass den Menschen etwas mehr ausmacht als perfekte Entsorgungsautomaten für das weltweite Netzwerk der Geschwätzigkeit oder die postmoderne massenmediale Geistentleerung zu sein: Lebewesen mit Gefühl und Verstand, mit Phantasie und spielerischer Neugierde. Kinder, denen suggeriert wurde, dass Erwachsensein heißt, diese Persönlichkeitselemente in sich zu ersticken. Der Zeitgeist drängt darauf, dass solche menschlichen Eigenschaften in der Inflation der Wörter sang- und klanglos untergehen oder werbepsychologisch instrumentalisiert werden. Die Gattung Mensch steht so im Begriff, in der Sintflut der Wörter und Informationen zur Sprachlosigkeit verdammt zu sein: Das nenne ich die »große Wortklimakatastrophe«.

Hier noch der Link zu meinem Lyrik-Blogg "Eintagsliebe"

(Fortsetzung folgt)