Sonntag, 26. Juli 2020

SEINSORIENTIERTE KÖRPERTHERAPIE (274): Maske, "Rührmichnichtan" und Corona

Bild von Sergei Tokmakov, Esq. auf Pixabay
Denn in den Gefühlen, die im Gegenüber angesprochen wurden, ließ sich ein faszinierendes Phänomen beobachten: Dessen Unbewusstes nahm die Verletzlichkeit, die seelische Brüchigkeit, durchaus wahr, die die narzisstische Großartigkeit angestrengt zu verbergen versuchte. Sie sprach typischerweise Beschützerinstinkte an, mütterliche und väterliche Gefühle für das fragile, ungeliebte innere Kind. Ein Ego, das sich besonders eindrucksvoll präsentierte, löste den Hang aus, solchen unbewussten Impulsen des »Beschützenwollens« besonders und eindrucksvoll zu folgen.

Die Dynamik, die sich in diesen Übertragungsgefühlen manifestierte, die die Großartigkeit, die Macht des Narzissten untermauerte, stammte aus dem mitfühlenden Herzen des Menschen, aus dem Quell der unendlichen Energie der Liebe.

Es bezog die Wirkung auf seine Claqueure nicht aus der Stärke seines Egos, sondern aus der dahinter verdeckten unsäglichen Einsamkeit. Ironischerweise zeigte sich hier eine Kollusion, die ihren Protagonisten häufig verborgen blieb.

In der Gegenübertragung erweckte es den Eindruck, als ginge man auf Eis, das jederzeit einbrechen könnte. Im therapeutischen Kontext vermochte eine »falsche« sprachliche Formulierung aggressive Reaktionen »narzisstischer Wut« auszulösen. »Falsch« war ein Wort oder ein Satz dann, wenn er eine Wahrheit aussprach, die das falsche, fragile Selbst infrage stellte, bedrohte.

In der alltäglichen Kommunikation, auf der Ebene konventioneller Verhaltensmuster, dominierte ein unausgesprochenes »Rührmichnichtan«, bezogen auf das narzisstische Ego. Jeder Kratzer an dieser Selbst-Inszenierung erweckte den Eindruck eines potentiellen Konfliktherdes.

Repräsentierten Konventionen, übliche Umgangsformen etc. nicht ein stillschweigendes Übereinkommen, das Ego, das Bild, die Erzählung, die jemand von sich vermittelte, nicht infrage zu stellen? Denn das war »normal«. Und normal wollte jeder sein.

Es galt zu verhindern, das »Gesicht zu verlieren«. Die Maske. Die Ehre. Es gab Zeiten in unserer Gesellschaft, da duellierte man sich, war bereit, um seiner Ehre willen sein Leben zu opfern. Es gab Kulturen, die dafür Mord und Totschlag begingen (sog. »Ehrenmorde«). In allen Armeen dieser Welt spielte »Ehre«. Wobei nicht zu übersehen ist, dass sich hier ein patriarchalisches Wertemuster spiegelt, nach wie vor eine zentrale Rolle. Die Ehre des Mannes und ihrer Infragestellung stellt sich häufig als Phänomen seiner gesellschaftlichen Positionierung dar. Die Ehre der Frau konnotiert häufig die Sexualmoral (Jungfrauenkult, Keuschheitszwang vor der Ehe, Ehrbeschmutzung bei Untreue usw.) und die Familie (»Familienehre«).

Fiele die Maske, käme das Abgespaltene zum Vorschein: innere Unsicherheit, Begrenztheit, authentische Emotionen, ... Wahrheit. Es war um jeden Preis zu vereiteln, wollte man sich als »normal« definieren und entsprechend anerkannt werden.

So »verrückt« waren normale, durch Scham normalisierte Menschen? »Verrückt« erschien mir die Realität, verrückt vom Wesentlichen, von der bio-emotionalen Wahrheit. Die Maske, allein das, was sein sollte, herrschte. Nicht Wirklichkeit.

Diese Aussage gewann aktuell an symbolischer Bedeutung durch Corona. Beides, Maske und »Rühmichnichtan«, die hier präsentierten Vorgänge des Unbewussten, traten, wie manches, aus ihrem Schattendasein hervor.

Die Maske avancierte zum sichtbaren Accessoire des homo sociologicus. Dank Covid-19 erscheint es »normal«, sich maskiert durch’s Leben zu bewegen. Jeder sieht die Maske, sie bleibt nicht weiter verborgen.

Ihr Tragen wurde zum Element sozialer Bezogen- und Verbundenheit. Die Ablehnung, sie zu tragen, sich zur »Not«Wendigkeit zu bekennen, verweist auf ihr Gegenteil, die antisoziale, egozentrische Verweigerung. Hier zeigt sich das vorsintflutliche, potentiell dem Untergang geweihte, narzisstische Ego, ebenso anmaßend wie verloren, indem es nicht nur das Leben anderer Menschen, sondern auch das eigene auf’s Spiel setzt.

In ähnlicher Weise verhält es sich mit der unbewussten Botschaft des »Rührmichnichtan«. Corona hat sie aus dem Schatten treten lassen. Der zwischenmenschliche Graben, für den, wie wir sahen, bisher das Ego sorgte, erwuchs zur sicht- und fühlbaren Erfahrung. Soziale Distanz, eingepfercht im Gebot des »Rührmichnichtan«, wurde durch das Abstandsgebot zur unübersehbaren Realität, trat aus dem Schatten in die Sichtbarkeit des Bewusstseins. Die Risse im Beton durchdringt das frische Grün der Hoffnung.

(Fortsetzung folgt)

Sonntag, 19. Juli 2020

SEINSORIENTIERTE KÖRPERTHERAPIE (273): Das grandiose Ego und das verlorene Kind

Bild von Thomas Wolter auf Pixabay

Die alleinige Ausrichtung auf die äußere Welt erwies sich als fataler Irrweg. Er führte genauso wenig zur Heilung wie das lebenslange Bestreben, von den Eltern im Nachhinein die heilsame Liebe zu erfahren, die man in der Kindheit entbehrte.

Selbst bei denjenigen, die scheinbar auf alle Konventionen pfiffen, ließ sich dieser tiefsitzende, verzerrte »Schrei nach Liebe« vernehmen, diese ständige Suche äußerer Anerkennung, Bewunderung, Spiegelung. Der Adressat war ausgetauscht. Es war nicht mehr die Gesellschaft im allgemeinen, sondern  die Subkultur, der sich jemand zurechnete. Die ersehnte Heilung von Selbstentfremdung nährte ein weites Spektrum an Sekten, Fanatikern, Formen des Missbrauchs.

Ein anderes Merkmal narzisstischer Verhaltensmuster erregte meine Aufmerksamkeit: das Phänomen expliziter oder verborgener Grandiositätsphantasien. Was war der Antrieb, sich großartig in Szene zusetzen? Im üblichen Sprachgebrauch gab es für die offene Variante viele Beschreibungen: »Schaum schlagen«, »aufschneiden«, »angeben«, »prahlen«, »protzen«, »sich aufplustern« usw.

Das Selbstbild, das sich dabei präsentierte, erinnerte an Werbeclips. Sie versprachen Ideale, Superlative, Wundersames. Eine eindrucksvolle heile Welt, von der alle Beteiligten, Macher wie Zuschauer, Erzähler wie Zuhörer, längst wussten, wie verlogen sie war. Solche Heldenerzählungen spulten sich rund um die Uhr ab, in jedem Gespräch, in den Massenmedien, in der ubiquitären Werbung.

Ihre Funktion bestand darin, Erwartungen zu erfüllen, die einer idealen Wirklichkeit auf Seiten des Adressaten, die nach Anerkennung und Bewunderung auf Seiten des Erzählers. Hier fand sich eine typische Kollusion. Beide Seiten profitierten davon psychologisch, materiell zumindest eine, wie  es heutzutage bei den sog. »Influencer« zutrifft.

Schwieriger wahrzunehmen als die Marktschreier und Prahlhänse waren diejenigen, die in ihrer Selbstüberschätzung dezenter auftraten. Bei ihnen schien die Grandiosität verborgen im Inneren auf, zeichnete sich nur indirekt im Verhalten ab. Das Muster war das gleiche: Der Hunger nach Bewunderung, Anerkennung und Liebe verbarg sich hier hinter der Maske der Zurückhaltung, eine ideale Voraussetzung für Kollusionen mit dem offen grandiosen Gegenpart.(Derartige Kollusionen zeigten äußerst verbreitet. Man begegnete ihnen in der Partnerwahl, in jeder Art Gruppenprozessen, insbesondere in Sektenstrukturen, in der Politik, überall dort, wo Führergestalten fanatische Anhänger um sich scharen.)

Ich gewann den Eindruck, dass in all diesen Haltungen sich ein kleines, verlorenes, sich nach Liebe sehnendes Kind verbarg, das sich angestrengt groß(artig) machte, um sich seiner Existenz zu versichern. Sich aufzuplustern, um die bedingungslose Liebe der Eltern zu erfahren, erwies sich in ähnlicher Weise als vergebliche Liebesmüh‘ wie der Versuch, durch die Bewunderung durch andere seine eigene Selbstentfremdung zu überwinden.

Das narzisstische Ego setzte sich als Kompensationsmechanismus in Szene, als erfolgloser Heilungsversuch einer Seele, die sich in ihren verborgenen Tiefen überhaupt nicht großartig, selbstbewusst und stark empfand, sondern klein, unsicher und schwach.

Dazu passten die ausgeprägten Schutz- und Kontrollmechanismen, verknüpft mit Empfindlichkeiten gegenüber jeder Art von Kritik. In extremen Fällen erschien allein die Existenz anderer Sichtweisen, abweichender Vorlieben, ja des Fremden schlechthin, ausreichend, um Verunsicherung und Abwehr auszulösen. Sobald ein Hauch derartiger Botschaften herüberwehte, traten Abwehrmechanismen unterschiedlicher Couleur hervor: Halsstarrigkeit, rechthaberischer Trotz, Beleidigtsein, Beschimpfungen, Wutausbrüche, Rückzug, Kontaktabbruch, Überheblichkeit, Verachtung. Sie stellten nur einige Varianten dessen dar, wie Menschen in sozialen Zusammenhängen auf vermeintlich kritische Äußerungen reagieren.

Wirkten diese Reaktionsmuster auch kraftvoll: Fragilität, Schwäche, Verunsicherung waren hinter der martialischen Kulisse für den Außenstehenden spürbar. Verkleidungen dienten bereits in der Kindheit individuellen Heldenerzählungen, lösten ein Lächeln aus. Das Drama des erwachsenen Narzissten bestand hingegen darin, dass er die Rolle des Helden nicht mehr als Spiel, sondern in ernsthafter Verzweiflung und mit verzweifelten Ernst darstellte. Dies verstärkte den Eindruck der Fragilität der ganzen Aufführung, auch in der Gegenübertragung.

(Fortsetzung folgt)

Sonntag, 12. Juli 2020

SEINSORIENTIERTE KÖRPERTHERAPIE (271): Beschämung, Scham und Fremdschämen

Image by Gerd Altmann from Pixabay

Die Tendenz zu Verhaltensmustern, die sich an phantasierte Erwartungen anderer orientierten, ließen sich auf Schritt und Tritt beobachten. Diese konventionellen Gesten verwiesen auf das Bedürfnis nach Gratifikation durch Spiegelung, Anerkennung, Bewunderung, Geliebtwerden. Selbst Fremden gegenüber, Menschen, mit denen keinerlei Beziehungserfahrung bestand, ließen sich solche Eigenarten registrieren.

Mir traten Szenarien vor Augen, in denen ein Kind, ein Freund oder Lebenspartner beschämt wurden, um vor anonymen Blicken Fremder zu bestehen. Hier zeigte sich nicht nur ein situationsbedingtes Verhalten, sondern eine »Haltung«, die sich in Gestalt einer »sozialen Maske« (W. Reich) durch das Leben zu ziehen schien. Der Verrat, den ein Kind durch seine Eltern erlitten hatte (»the first cut is the deepest« - Cat Steivens), wandelte sich im sozialen Kontext zur schmerzlosen, schlussendlich mit ihm vehement identifizierten »Normalität«.

Die »soziale Maske« Reichs, die ich hier begrifflich mit dem »narzisstischen Ego« gleichsetze, funktionierte nach Regeln der Konventionen der jeweiligen Kultur. Intrapsychisch gelang das mithilfe durchgängiger Selbstbeschämung, die das Gefühls- und Seelenleben im Sinne gesellschaftlicher Übereinkunft prägte und domestizierte.

Sie formte in Gestalt verschiedener Arten von Sozialkontrolle nicht nur die eigene Seele. Wie ich zu meinem eigenen Herzen bin, so bin ich zum Herzen des anderen.

Schämte man sich seiner eigenen Gefühle, dann traf dies auch auf die anderer zu. Selbst Emotionen derjenigen, die persönlich unbekannt waren, konnten Scham auslösen. Es gibt ein Modewort, das diesen Vorgang in das Bewusstsein rückt: »Fremdschämen«.

Die Tendenz, konventionelles, angepasstes Verhalten zur Norm zu erheben, funktionierte über einen langen, aber niemals vollkommenen Entwicklungsprozess von Beschämung und Selbstbeschämung. Sie bildete ein grundlegendes Element der Selbstentfremdung. Mithilfe der Scham lernte man von Kindheit an, Gefühle und Emotionen zu kontrollieren. Dies entsprach den Erwartungen und Rollenzuweisungen des sozialen Systems, in dem man aufwuchs. Ein typisches Beispiel lautet: »Ein Junge weint nicht, ein braves Mädchen lächelt, aber wird nicht aggressiv.«

Charakterliche und körperliche Blockierungen entwickelten sich, um den lebendigen emotionalen Ausdruck zu domestizieren. Letzterer stand später dem erwachsenen Menschen nicht mehr umfänglich zu Verfügung. Der kleine Junge lernte, seine Verletzlichkeit zu beherrschen, sie nicht zu zeigen. Spätestens im Erwachsenenalter waren die Tränen versiegt.

Das Mädchen, dem die Mutter vorlebte, aggressive Impulse zu kontrollieren, sie mit einem Lächeln zu überdecken, um brav den Erwartungen zu entsprechen, lächelte als Frau selbst dann noch, wenn ihre Grenzen massiv überschritten wurden.

Der zum Mann herangewachsene Knabe ließ weiche, zarte Gefühle nicht zu, das zur Frau erwachsene kleine Mädchen vermochte nicht für seine Integrität einzutreten.

Ähnliche Formungsprozesse, entsprechend den Einflüssen der Umgebung, fanden sich bei allen Elementen des Seelenlebens. Zur Haupt-- und Kontrollinstanz der Formung diente die soziale Maske, das narzisstische Ego. Sie blieb unterschwellig mit Schmerzkörper und Selbst-Entfremdung verbunden, ohne sich dessen gewahr zu sein. Die Abspaltung der in der Tiefe verborgenen Fülle, des »biologischen Kerns«, konsolidierte den Schein innerlicher Armut. Wirkte es da verwunderlich, dass äußerer Reichtum umso erstrebenswerter erschien, wo der Weg zum innerem versperrt war?

Überhaupt blieb der Blick des Egos reflexartig nach Außen gerichtet. Begegnete er andernfalls doch nur der beschämten Schattenwelt, Echos des Schmerzhaften, den verpönten Gefühlen der »sekundären Schicht«.

Die zwanghafte Fixierung der Aufmerksamkeit auf die äußere Welt ging einher mit einem eklatanten Defizit an Bewusstheit. Die buddhistische Psychologie beschreibt das wie folgt:

»Da wir uns unseres Innenlebens so wenig bewusst sind, haben wir den Eindruck, äußere Einflüsse würden unser Leben kontrollieren. Entweder gefällt uns, was wir erleben, oder wir finden es ganz schrecklich. Dieser Zustand schlägt dauernd um, so dass wir ständig in Anhaftung oder Abneigung befangen sind.«( Kornfield, Jack (2008), S. 86)

(Fortsetzung folgt)

Sonntag, 5. Juli 2020

SEINSORIENTIERTE KÖRPERTHERAPIE (270): Körpertherapie und die Ära der Selbstoptimierung

Image by luxstorm from Pixabay

In der reichianischen Körpertherapie stand im Fokus, die Klarheit einer Emotion dort zu unterstützen, wo im Gefühlsausdruck eine Durchmischung und gegenseitige Blockierung unterschiedlicher Gefühle erkennbar war. Dieses Phänomen verwies auf körperlich-energetische Blockierungen, die eine ganzheitliche bio-emotionale Ausdrucksbewegung verhinderten. Reich sprach in diesem Zusammenhang vom Charakter- und Körperpanzer.

Drückte sich eine beliebige Emotion authentisch, unvermischt und vollständig aus, so ging damit ein Gefühl tiefer Erleichterung und Entspannung einher. Der Kontakt zur inneren Wahrheit, die ja gleichzeitig Wahrhaftigkeit des Herzens (»Hand aufs Herz«) ist, wurde unmittelbar spürbar.

Der Zugang zur Seele über die Arbeit mit dem Körper und seinen bio-emotionalen Prozessen führte deutlich vor Augen, dass das Seelenleben in seiner Tiefe Selbstregulationspotentiale enthielt. Missverstanden und negativ besetzt, musste die Welt des emotionalen Erlebens unzugänglich, in der Schublade des Beängstigenden, des Irrationalen, des zu Kontrollierenden verborgen bleiben.

Davon abgesehen, suchte, wie die Erfahrung lehrte, das so Ausgegrenzte als wesentlicher Teil der menschlichen Natur stets nach Schlupflöchern. Es umging den Kerkermeister des Denkens, wo immer sich eine Möglichkeit bot: Hier zeigte sich ein typisches Szenario des »innerseelischen Bürgerkriegs«, jenem niemals endenden Konflikt zwischen Gefühl und Vernunft, gefühlsmäßiger Wahrheit und Rationalität, Herz und Gehirn.

Weitere Fragen stellten sich. Wenn im Menschen von Kindheit an ein Stück Sisyphos angelegt wird, narzisstische Persönlichkeitszüge auf jeden zutreffen, musste das nicht auf Auswirkungen auf die therapeutische Arbeit haben? Wie wirkte sich das auf diese aus, welche Fragestellungen ergaben sich für die Körpertherapie?

Körpertherapeutische Herangehensweisen halfen, zurückgedrängte, blockierte Emotionen in die Persönlichkeit zu reintegrieren. Damit ging typischerweise eine Identifizierung mit den Gefühlen des »inneren Kindes« einher.

Das Ego lernte, dies ließ sich immer wieder beobachten, sich mit den individuellen emotionalen Mustern zu identifizieren. Doch war mit dieser Reintegration der Transformationsprozess der Persönlichkeit vollständig?

Im Laufe der Zeit gewann ich den Eindruck, dass hier lediglich eine Umprogrammierung des narzisstischen Egos erfolgte. Zwar erweiterten zuvor blockierte Emotionen das seelische Gesichtsfeld, schufen in Stück Freiheit im Erleben und Verhalten. Denn die Körpertherapie ermöglichte, in der Kindheit abgespaltene, verdrängte Gefühle zu reintegrieren. Das Ich-Bewusstsein schloss das »innere Kind« liebevoll in die Arme. Das zwanghafte Denken des Ego-Verstands konnte so gelockert werden, an den Identifizierungen mit den Konstruktionen des Ego-Verstands veränderte sich ... nichts.

Beobachtungen zeigten: Das Perspektive des »Ich-Ich-ich«, die narzisstische Selbst-Bezogenheit verloren in diesem Prozess nicht etwa an Intensität, sondern nahmen zu.

Allmählich gewann ich den Eindruck, als Egozentriker von lauter Egozentrikern umgeben zu sein. Wir alle waren nur mit uns selbst beschäftigt, kreisten um das eigene Wohlbefinden, um innerseelische Wetterumschwünge und die Irritationen der Umwelt, insoweit sie uns selbst betrafen.
Narzisstische Persönlichkeitsmuster nahmen nicht ab, sie zeigten sich potenziert. Ja, die Etiketten waren ausgetauscht. Wo vorher »die Anderen (Eltern, Lehrer, Gesellschaft) sind schuld« draufstand, las man »ich blicke viel besser durch, bin viel besser als die Anderen«. Das Zeitalter der Selbstoptimierer war angebrochen. An der Haltung, die »Anderen« als Instanz und Gradmesser für die eigene Identität zu betrachten, hatte sich nichts geändert.

Ich stieß an die Grenze dessen, was ein körpertherapeutischer Prozess offenbar zu leisten imstande war. Das alte »neurotische Gleichgewicht« ersetzte man durch ein korrigiertes seelisches Konstrukt. Die alte Erzählung darüber, wer man glaubte zu sein, wurde gegen eine neue eingetauscht. Eine aufgehübschte Geschichte, die man sich selbst und den anderen in all dem erzählte, was aufschien.
Doch fühlte ich mich oder fühlte sich der Klient damit in Einklang mit sich selbst und seinem Leben? Vermochte ich jene Heimat und Frieden in mir wahrzunehmen, die ich verloren hatte? War die Selbst-Entfremdung damit überwunden? Führte jahrelange Körper- oder Psychotherapie zur wahrhaftigen Freiheit, innerlich und äußerlich, in Lebensumwelt, in Beziehungen?

Waren Spiegelungssucht, jene qualvolle Anstrengung des Sisyphos, der Drang nach Anerkennung und Bewunderung durch andere, das Defizit an Liebesfähigkeit, damit aufgehoben? Ließ sich dieser Weg als Beitrag zur Transformation der Persönlichkeit, zur Aufhebung der Selbstentfremdung, zur Befreiung aus der narzisstischen Falle betrachten?

(Fortsetzung folgt)