Sonntag, 12. Juli 2020

SEINSORIENTIERTE KÖRPERTHERAPIE (271): Beschämung, Scham und Fremdschämen

Image by Gerd Altmann from Pixabay

Die Tendenz zu Verhaltensmustern, die sich an phantasierte Erwartungen anderer orientierten, ließen sich auf Schritt und Tritt beobachten. Diese konventionellen Gesten verwiesen auf das Bedürfnis nach Gratifikation durch Spiegelung, Anerkennung, Bewunderung, Geliebtwerden. Selbst Fremden gegenüber, Menschen, mit denen keinerlei Beziehungserfahrung bestand, ließen sich solche Eigenarten registrieren.

Mir traten Szenarien vor Augen, in denen ein Kind, ein Freund oder Lebenspartner beschämt wurden, um vor anonymen Blicken Fremder zu bestehen. Hier zeigte sich nicht nur ein situationsbedingtes Verhalten, sondern eine »Haltung«, die sich in Gestalt einer »sozialen Maske« (W. Reich) durch das Leben zu ziehen schien. Der Verrat, den ein Kind durch seine Eltern erlitten hatte (»the first cut is the deepest« - Cat Steivens), wandelte sich im sozialen Kontext zur schmerzlosen, schlussendlich mit ihm vehement identifizierten »Normalität«.

Die »soziale Maske« Reichs, die ich hier begrifflich mit dem »narzisstischen Ego« gleichsetze, funktionierte nach Regeln der Konventionen der jeweiligen Kultur. Intrapsychisch gelang das mithilfe durchgängiger Selbstbeschämung, die das Gefühls- und Seelenleben im Sinne gesellschaftlicher Übereinkunft prägte und domestizierte.

Sie formte in Gestalt verschiedener Arten von Sozialkontrolle nicht nur die eigene Seele. Wie ich zu meinem eigenen Herzen bin, so bin ich zum Herzen des anderen.

Schämte man sich seiner eigenen Gefühle, dann traf dies auch auf die anderer zu. Selbst Emotionen derjenigen, die persönlich unbekannt waren, konnten Scham auslösen. Es gibt ein Modewort, das diesen Vorgang in das Bewusstsein rückt: »Fremdschämen«.

Die Tendenz, konventionelles, angepasstes Verhalten zur Norm zu erheben, funktionierte über einen langen, aber niemals vollkommenen Entwicklungsprozess von Beschämung und Selbstbeschämung. Sie bildete ein grundlegendes Element der Selbstentfremdung. Mithilfe der Scham lernte man von Kindheit an, Gefühle und Emotionen zu kontrollieren. Dies entsprach den Erwartungen und Rollenzuweisungen des sozialen Systems, in dem man aufwuchs. Ein typisches Beispiel lautet: »Ein Junge weint nicht, ein braves Mädchen lächelt, aber wird nicht aggressiv.«

Charakterliche und körperliche Blockierungen entwickelten sich, um den lebendigen emotionalen Ausdruck zu domestizieren. Letzterer stand später dem erwachsenen Menschen nicht mehr umfänglich zu Verfügung. Der kleine Junge lernte, seine Verletzlichkeit zu beherrschen, sie nicht zu zeigen. Spätestens im Erwachsenenalter waren die Tränen versiegt.

Das Mädchen, dem die Mutter vorlebte, aggressive Impulse zu kontrollieren, sie mit einem Lächeln zu überdecken, um brav den Erwartungen zu entsprechen, lächelte als Frau selbst dann noch, wenn ihre Grenzen massiv überschritten wurden.

Der zum Mann herangewachsene Knabe ließ weiche, zarte Gefühle nicht zu, das zur Frau erwachsene kleine Mädchen vermochte nicht für seine Integrität einzutreten.

Ähnliche Formungsprozesse, entsprechend den Einflüssen der Umgebung, fanden sich bei allen Elementen des Seelenlebens. Zur Haupt-- und Kontrollinstanz der Formung diente die soziale Maske, das narzisstische Ego. Sie blieb unterschwellig mit Schmerzkörper und Selbst-Entfremdung verbunden, ohne sich dessen gewahr zu sein. Die Abspaltung der in der Tiefe verborgenen Fülle, des »biologischen Kerns«, konsolidierte den Schein innerlicher Armut. Wirkte es da verwunderlich, dass äußerer Reichtum umso erstrebenswerter erschien, wo der Weg zum innerem versperrt war?

Überhaupt blieb der Blick des Egos reflexartig nach Außen gerichtet. Begegnete er andernfalls doch nur der beschämten Schattenwelt, Echos des Schmerzhaften, den verpönten Gefühlen der »sekundären Schicht«.

Die zwanghafte Fixierung der Aufmerksamkeit auf die äußere Welt ging einher mit einem eklatanten Defizit an Bewusstheit. Die buddhistische Psychologie beschreibt das wie folgt:

»Da wir uns unseres Innenlebens so wenig bewusst sind, haben wir den Eindruck, äußere Einflüsse würden unser Leben kontrollieren. Entweder gefällt uns, was wir erleben, oder wir finden es ganz schrecklich. Dieser Zustand schlägt dauernd um, so dass wir ständig in Anhaftung oder Abneigung befangen sind.«( Kornfield, Jack (2008), S. 86)

(Fortsetzung folgt)

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