Sonntag, 3. Juni 2018

SEINSORIENTIERTE KÖRPERTHERAPIE (242): Die Poesie der Mystik

Rumi (1207–1273)
Der Name »Kabir«, den mir mein Lehrer spiritueller Lehrer Alakhananda Al Qahhar gab, verweist auf den Mystiker Kabir, der im 14. Jahrhundert in Indien lebte und lehrte. Sympathisch mutete an, dass er mehrere religiöse Traditionen in sich vereinte, besser, sich als Vertreter einer einzigen, allumfassenden Spiritualität verstand.

Kabir wuchs in einer Moslemfamilie auf. In seiner Jugend wurde er Schüler des bekannten hinduistischen Asketen Ramananda, einem Vorreiter der mystischen Erneuerung gegen die intellektualisierte Lesart der damals vorherherrschenden vedischen Philosophie. Später entdeckte Kabir die berühmten persischen Mystiker des Sufismus wie Rumi und Hafiz und  beschäftigte sich auch mit jüdischen und christlichen Quellen.

Kabir war Dichter. Im Ozean seiner Poesie vereinigten sich all diese Einflüsse. Es verwundert nicht, dass nach Kabis Tod 1518 Angehörige verschiedener Religionen ihn zu dem Ihren erklären wollten. Der Legende zufolge stritten sich Hindus, Moslems und Sufis bereits bei der Beerdigung um seine Vereinnahmung. Kabir gilt heute als einer einflussreichsten Dichter Indiens und als bedeutender Mystiker, dessen Wirkung bis heute anhält.

Das folgende, nach wie vor aktuelle Gedicht, gibt einen Einblick in die Lehre Kabirs:

Ich bin an deiner Seite
Wo nur suchst du mich?
Schau hin! Ich bin an deiner Seite.
Ich bin nicht im Tempel,
nicht in der Moschee.
Ich bin nicht in der Kaaba
und nicht am Kailash.
Ich bin nicht in Riten und Zeremonien,
nicht in Yoga und Entsagung.
Wenn du ein wirklicher Sucher bist,
dann erblickst du mich in diesem Augenblick –
du begegnest mir in diesem Moment.
Kabir sagt:
›Gott ist der Atem allen Atems‹

Einem anderen Mystiker und Dichter, dem Perser Rumi, erwähnte ich bereits in Zusammenhang mit Al Baumann und Wilhelm Reich, die diese Poesie gemeinsam vertonten. Obwohl ich mich seit meiner Jugend als Freund der Poesie verstand und selbst Gedichte schrieb, war mir Rumi bis zu diesem Zeitpunkt nicht bekannt. Meine Bewunderung für alles, was mit Reich zusammen hing, motivierte mich bereits damals, die Poesie Rumis kennenzulernen.

Ich fühlte mich fasziniert, ja überwältigt von der Schönheit und Weisheit in Rumis Versen. Die Klarheit der Worte ermöglichte einen visionären Blick in die Tiefsee der menschlichen Seele, in jene Welten, wo die Liebe im Dunklen wohnt. In meinem Herzen entfaltete sich eine Blüte langsam, scheu, vorsichtig, und in ihr erwachte gleichzeitig eine Sehnsucht, die viel weiter ging, allumfassend wachsen wollte, mich zog und dehnte bis ins Universum. Eine Ausdehnung aller Sinne, eine essentielle Wirklichkeit, erzeugt durch ein paar einfache Worte eines Mystikers und Poeten.

Die Anziehung, die Rumi ausübt, scheint, nicht nur für mich, bis heute ungebrochen. Dieser Mystiker, glückselig und trunken vor Liebe, berührt bis zum heutigen Tage zahllose Menschen, die seinen Worten begegnen. Wie können einfache Worte eine solche Wirkung ausüben? Weil sie eine tiefe Wahrheit in uns berühren und zum Klingen bringt, die, unabhängig von Zeit und Kultur, unser Menschsein ausmacht: die Wahrheit über die Natur der Liebe.

(Fortsetzung)