Samstag, 11. April 2020

SEINSORIENTIERTE KÖRPERTHERAPIE (263): Reaktionsmuster auf kindliche Angst

foto: pixabay
Stellen Sie sich folgende Schlüsselszene vor: Eine Mutter geht mit ihrem Kleinkind die Straße entlang. Plötzlich erschüttert ein tieffliegender Hubschrauber die Stille. Das Kind, das dies zum ersten Mal erlebt, erschrickt und versteift sich, weint laut auf vor Angst.

Eine Mutter kann u. a. auf dreierlei Weise reagieren

•    Die instinktive Reaktion wäre, ihr Kind auf den Arm zu nehmen, zu halten und zu umarmen.
•    Ein anderes vorstellbares Reaktionsmuster wäre, das Kind in seiner Angst zu ignorieren und keinerlei Resonanz zu zeigen (»Kontaktlosigkeit«).
•    Eine dritte Variante wäre eine »verbal-logische Reaktion«: Die Bezugsperson reagiert mit Erklärungen, z. B.: »Das ist doch nur ein Hubschrauber. Da brauchst du doch keine Angst zu haben!«

I.
Die instinktive Variante wäre die gattungsgeschichtlich naheliegende. Der Bindungsforscher John Bowbly, leider erinnere ich mich nicht mehr, wo in seinen Büchern ich die Stelle gelesen habe (ich bitte um Nachsicht, falls hier einige Details ungenau wiedergegeben werden), beschrieb die Szenerie einer Affenhorde im Urwald. Dabei löste ein Tiefflieger Panik unter den Jungtieren aus, die zum ersten Mal mit diesen lauten Geräuschen konfrontiert wurden. Die jungen Affen sprangen instinktiv in den Arme der älteren Tiere, die sie umarmten und hielten, bis die Angst verebbte. Bemerkenswert war, dass es sich um ältere, lebenserfahrene Affen handelte. Verwandtschaft oder Elternschaft spielte keine Rolle.

II.
Im Szenario der Kontaktlosigkeit wird sich das Kind halt- und resonanzlos in seinen Gefühlserleben erfahren. Häufen sich derartige Erfahrungen, mangelt es u. a. an dem, was der Pionier des Säuglingsforschung Daniel Stern als »affect attunement«. Stern hat den Begriff Attunement geprägt, einen Begriff, für den im Deutschen meist der Terminus Rapport oder Kontingenz verwendet wird. Die Begrifflichkeit ist schwer übersetzbar und meint den sehr komplexen Vorgang, wie zwei Menschen sich in ihrem Rhythmus und ihren Gefühlen aufeinander einstimmen und dann innere Zustände miteinander teilen. Anzuführen wäre hier unter anderem das Spiel mit amodalen Entsprechungen zwischen Mutter und Kind: Die Mutter setzt Bewegungen und freudige Gestimmtheit des Kindes in Laute, Rhythmus, Kopfnicken etc. um. Dieses Teilen des inneren Zustandes bewirkt das Herstellen von Gemeinsamkeiten über spielerische Interaktion auf einer amodalen Ebene.« (Aus: Wikipedia, Artikel zu Daniel Stern – Psychoanalytiker)

Ich übersetze es mit »affektive Einstimmung«. Hier verorte ich eine die Quelle dessen, was ich als »Spiegelungsbedürfnis« bezeichne.

Defizite an Resonanz und Selbstwirksamkeit werden zur prägenden, persönlichkeitsbildenden Erfahrung. Diagnostisch lassen sich hier Persönlichkeitsstrukturen zuordnen, die in der Psychopathologie als »frühe Störungen« zusammengefasst werden.

Es lässt sich leicht nachvollziehen, dass die Erfahrung, sich haltlos in seinen Emotionen zu erleben, tiefe Spuren im Seelenleben hinterlässt. Eine lebenslange Suche nach Spiegelung, die bei ausgeprägten Frühstörungen ins Auge fällt, kann damit in Zusammenhang gesehen werden.

III.
Die 3. Variante betrachte ich als charakteristisches Prägungsmuster, welches für das Hintergrundszenario des »innerseelischen Bürgerkriegs« maßgeblich ist. Es findet sich typischerweise in bürgerlichen Sozialschichten, erscheint prägend für die vorherrschenden Persönlichkeitsmuster der westlichen Gesellschaften.

Hier besteht die Reaktion nicht in einer energetischen Zuwendung, sondern in der energetischen Abwendung. Die Bezugsperson entzieht sich dem Kontakt mit der Angst des Kindes, indem sie sich auf die Ebene der Sprache, des analytischen Denkens und der Erklärungen begibt. Stellt man die Frage, was sie dazu motiviert, ist unschwer zu erkennen, dass es der eigenen Angstabwehr dient. Es spricht vieles dafür, dass die Bezugsperson ähnliche Lektionen in ihrer eigenen Kindheit gelernt hat.

Von Generation zu Generation werden u. a. folgende »Lektionen für das Leben« vermittelt: »Ich ignoriere deine Angst, sie ist belanglos, berührt mich nicht.«, »Du musst deine Gefühle nicht so wichtig nehmen«, »Meine Erklärungen sind bedeutsamer als Angst« und allgemein: »Des Menschen Worte sind wichtiger als jedes Gefühlserleben«. 

(Fortsetzung folgt)

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