Samstag, 11. Juni 2022

Wege zur Hingabe des Herzens

Der Orpheus-Mythos (2)

Bild von W M Pank auf Pixabay
Damit offenbart sich Orpheus als Gesinnungsgenosse des Prometheus, variiert die Erzählung vom Zauberlehrling, in der die menschliche Grandiosität, die Fehlbarkeit seines Umgangs mit der Schöpfung aufscheinen.

Das Zusammenwirken des Mangels an Vertrauen in sein Herz und die Götter, sowie die rationalisierende Wirklichkeitskonstruktion (»sie ist nicht hinter mir«, »es ist nichts zu hören« etc.) lösen die (Zwangs-)Handlung jener Vergewisserung, aus der heraus sich Orpheus abrupt und gegen seinen Vorsatz umwendet aus.

So scheitert Orpheus auf vielfache Weise, zeigt sich zutiefst menschlich, definiert letztlich das Menschliche schlechthin:
•    in seiner Sehnsucht, den Tod zu überwinden;
•    in der unterschwelligen Ambition der Kunst, ein Stück Unsterblichkeit zu vergegenständlichen;
•    in der Sehnsucht, dass Liebe mächtiger sei als der Tod;
•    in dem Geist der Utopie [vgl. Bloch, Ernst (2018)] der Kunst, das Leben vorwärts zu träumen;
•    in dem Mangel an Vertrauen auf unterschiedlichen Feldern;
•    im Gefängnis seiner seelischen Schattenwelt, deren Wahrheit Eitelkeit und Grandiosität vergeblich zu kompensieren versucht.

Die Conditio humana bleibt dort zu verorten, wo Kunst und Leben auseinanderklaffen. Das Begnadete in der Kunst des Orpheus vermochte die Herzen aller Lebewesen, ja selbst der Götter zu berühren. Aber er selbst blieb begrenzt in seinen Möglichkeiten. Als es galt, das Göttliche seiner Kunst ins Leben zu transformieren, in Präsenz und Essenz der Lebensenergie Liebe zu sein, im Urvertrauen an das Sein den Weg ins Leben zu beschreiten, scheiterte er. Nur die vollkommene Hingabe an die Liebe, das Eins-Sein mit der Wahrheit des Herzens, hätte ihn in die Lage versetzt, den Tod zu überwinden. Die Liebe, die Orpheus in seiner Gesangskunst entfaltete, stieß an ihre Grenzen, als es darum ging, sie zu leben.
Dies alles lässt den begnadeten Künstler Orpheus menschlich erscheinen. Es schmälert keineswegs sein künstlerisches Potential. Es verweist auf die Kluft zwischen Kunst und Leben. Davon erzählt uns der Mythos. Die Lebensenergie Liebe, die in seiner Kunst aufscheint, steht im Gegensatz zu dem, was er ins Leben zu bringen vermag.

Das Elysium in der Kunst und im Leben, man ahnt es, sind und bleiben getrennte Welten. Orpheus, der genialste Musiker des Altertums, Sinnbild des Kunstschaffenden schlechthin, scheiterte, wie jeder Mensch nach ihm, daran, Kunst und Leben zu vereinen.

Eine Frage blieb offen: Welches Geheimnis, welche »Zauberkraft« wohnte der Gesangskunst des Orpheus inne? Wie konnte sie diese enormen Wirkungen auf Mensch, Tier und Götterwesen ausüben? Was ereignete sich zwischen Sänger und Publikum, schuf den Vorschein von Elysium, jenen Götterfunken von Seligkeit? Betrachten wir, was der Mythos darüber berichtet:

(...) Begleitet von seiner Kithara ... oder Lyra pflegte Orpheus den Einzelgesang. In den Waldtälern ... versammelte er mit seinem Leierspiel Bäume und wilde Tiere um sich, Vögel und Fische kamen, ihm verzückt zu lauschen.
(...) Alles bislang Aufgeregte kam bei den Klängen seines Instruments zu friedlicher Ruhe, Steine, ja selbst Felsen und ganze Gebirge vermochte Orpheus in Bewegung zu setzen. So galt er manchen als Erfinder der Musik überhaupt, deren Zauberkraft sich alles gefügig macht.[Abenstein, reiner (2005)]

Die lebendigen Wesen, Flora und Fauna, traten in einen Zustand des Lauschens ein, in einen Zustand faszinierter Stille, »friedlicher Ruhe«; die Steine hingegen, von Natur aus unbeweglich, setzten sich in Bewegung. Es handelt sich um Transformationsprozesse, bei denen diese Wesenheiten ihren gewohnten Seins- und Bewusstseinszustand verlassen, erweitern, umwandeln. Lebendige Geschöpfe versinken in Trance, Steine beginnen zu tanzen. Eindrucksvoll, was Orpheus in der Natur bewirkt!

(Fortsetzung folgt)

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