Freitag, 4. März 2016

SEINSORIENTIERTE KÖRPERTHERAPIE (72): Ein Leben in Misstrauen

Die folgende Fallvignette illustriert anschaulich das Zusammenspiel von Selbstbeziehung, Objektbeziehung und Übertragungsbeziehung:

Bei Frau D. fiel bereits im Erstinterview ihr offen zutage tretendes Misstrauen auf. Ihre Fragen, ihre Mimik und Körpersprache brachten deutliche Hinweise, dass sie von starkem Misstrauen meiner Person und all meinem Tun gegenüber geprägt war, obwohl sie mir zum ersten Mal begegnete.

Die Lebens- und Familiengeschichte, die sie schilderte, war von Kontrollwahn, narzisstischem Missbrauch und emotionaler Kälte geprägt, die in ihrer Herkunftsfamilie vorherrschte und die Beziehungen der 4 Geschwister mit ihren Eltern prägte.

Beim Erstgespräch zählte sie 41 Jahre, wirkte erschöpft und verlangsamt in ihren Bewegungen, nur die Augen und die Mimik zeigten Ansätze von Lebendigkeit. Sie beschrieb sich als Opfer der falschen Männer in ihren wenigen kurzen Beziehungen und war seit fast 10 Jahren beziehungslos. Sie litt an Depressionen und Ängsten und zeigte energetisch Ansätze tiefer Verzweiflung, die sie allerdings nicht wahrhaben wollte. Es gab keine Freundschaften in ihrem Leben, sondern nur mehrere Katzen, mit denen sie zusammen lebte.

Ich konnte mir gut vorstellen, dass das Misstrauen, das sie anderen Menschen entgegenbrachte, diese schnell auf Distanz zu ihr gehen ließ. Entsprechende Gegenübertragungen waren deutlich spürbar, es gab einen Anklang von Kälte und Unwohlsein in ihrer Gegenwart.

Meine Frage, was sie denn selbst von sich halte, brachte die Abgründe ihres Misstrauens in all ihrer zerstörerischen Wirkung  zum Vorschein. „Ich traue mir selbst und meinen Gefühlen nie, deshalb kann ich auch keinem anderen vertrauen. Ich werde eh immer wieder betrogen und im Stich gelassen.“

In der ersten Phase der Arbeit mit Frau D. wurde sie zu Beginn jeder Stunde dazu aufgefordert, ihr Misstrauen bezogen auf meine Person und die seinsorientierte Körpertherapie in aller Ausführlichkeit darzustellen. Sie lernte, dieses Misstrauen mir gegenüber in Beziehung zu den Störungen in ihrer Selbstbeziehung zu setzen.

Ihr Misstrauen und die damit verbundene Selbstbeziehungsstörung erhielten so besondere Aufmerksamkeit. Frau D. konnte allmählich die für sie neue Erfahrung machen, dass sie trotz ihres Misstrauens nicht verlassen wurde. Diese Erfahrung schuf eine erste Basis positiver Übertragung,  stärkte das Arbeitsbündnis und begründete so die ersten Schritte zu ihren veränderten Selbst- und Objektsbeziehungen.

(Fortsetzung folgt)

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