Freitag, 18. Dezember 2015

SEINSORIENTIERTE KÖRPERTHERAPIE (45): Sexuelle Liebe als Kategorie des Seins


Der Orgasmusreflex pflegte typischerweise in den Endphasen von Reichs  körpertherapeutischen Behandlungen aufzutreten. Auf dem Hintergrund seiner Beobachtung, dass der „normale Neurotiker“ als Pendant seiner neurotischen Charaktermuster entsprechende körperliche Blockaden (die sog. „segmentale Panzerung“) aufweist, interpretierte Reich das Auftreten des Orgasmusreflexes in der körpertherapeutischen Arbeit als Hinweis darauf, dass diese Blockaden im Verlaufe der körpertherapeutischen Arbeit erfolgreich aufgelöst worden waren.

Wesentlich erscheint mir hier die Entdeckung Reichs, dass es in der Tiefe unserer biologischen Existenz reflexartige, unwillkürliche vegetative Vorgänge gibt, über deren Bedeutung bis heute wenig bekannt ist.

So wie die Lustwellen des Säuglings beim Stillen („oraler Orgasmus“) in unserer diesbezüglich unwissenden Kultur teilweise pathologisiert und mit Medikamenten behandelt werden, so liegt auch der Verdacht nahe, dass vieles, was als vegetative Spontanbewegungen in der erwachsenen Sexualität auftreten kann, eher mit Stirnrunzeln oder Scham betrachtet wird denn als Ausdruck einer natürlichen und lebendigen Sexualität.

Auf diesem Hintergrund möchte ich eine Betrachtungsweise der genitalen Sexualität zu Diskussion stellen, die eine andere Perspektive als die gewohnte gehirndominierte Sichtweise beinhaltet: Was wäre, wenn der Gemeinplatz, dass Sexualität im Gehirn stattfindet, nur der Ausdruck einer langen kulturellen Domestizierung des Menschen repräsentiert? Diese Spaltung von Gehirn und Herz, von Gedanken und Gefühlen, von Bewusstsein und Biologie stellt nur eine Verzerrung der biologischen Potentiale des Menschen dar.

Ist es nicht naheliegend, dass sich in unserem Begriff von sexueller Liebe all jene historischen Traumata, gesellschaftlich-historischen Prägungen und körperlich-seelischen Programmierungen wiederfinden, die den modernen Menschen zu dem gemacht haben, was er ist: Ein, wie oben dargestellt, in seiner Liebes- und Lustfähigkeit eingeschränktes Lebewesen, das von den Wurzeln seiner biologischen Potentiale abgeschnitten ist. Die Folgen dieser Entfremdung finden sich in einer individuellen und kulturellen Wahrnehmungsverzerrung seiner eigenen Natur und derjenigen, dessen Teil er ist.

Betrachten wir die sexuelle Liebe als etwas, was auch jenseits der Steuerung und Kontrolle durch die Instanz des Gehirns und der kontrollierenden Gedankenwelt existiert, dann stellt sie sich nach den vorangegangenen Ausführungen als ein biologisches, instinktives und vor allem spontan vegetatives Geschehen dar, was im körperlichen und emotionalen Erleben vollständig autonom ablaufen kann. In dem Sinne, dass sexuelle Liebe nicht „gemacht“ wird (d.h. vom Bewusstsein kontrolliert gesteuert), sondern geschieht, so ist sie nicht Kategorie des Tuns oder des Machens, sondern Kategorie des Seins.

(Fortsetzung folgt)

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen