Wilhelm Reich (1897-1957) |
Wilhelm Reich hat die auf Freud basierenden psycho-sexuellen Entwicklungsphasen um ein wichtiges Element erweitert, nämlich um die sog. okulare Phase. Diese beginnt mit der Geburt, d. h. in jenem Augenblick, in dem das Neugeborene seine Augen zum ersten Mal für die Welt öffnet. Vieles deutet darauf hin, dass jedes Neugeborene gewissermaßen kurzsichtig auf die Welt kommt, sich das scharfe, beidäugige und räumliche Sehen erst in den darauf folgenden Lebenstagen und Wochen entwickelt und stabilisiert.
Die Sehfähigkeiten des Neugeborenen sind offensichtlich
darauf ausgerichtet, den Kontakt mit dem Gesicht der Mutter und der Mutterbrust
sicherzustellen. Meine Vermutung ist, dass mit der Trennung von der Nabelschnur
die Augen genau diese Funktion übernehmen: Die Augen werden zur energetischen
Nabelschnur, die das Neugeborene mit seiner Mutter und der unmittelbaren
Umgebung verbinden.
Mit den ersten Blicken in die Lebensumwelt,
in die er hineingeboren wird, werden die ersten Prägungen durch die Welt auf
die tabula rasa der Augen-Gehirn-Verbindung des Säuglings geschrieben. Empfängt
ihn diese Welt liebevoll, freudig, mit Achtsamkeit? Drücken die Augen der
Mutter und der anderen Menschen, die seinem Blick zum ersten Male begegnen, dieses
liebevolle Willkommen aus?
Wer in die Augen eines Neugeborenen geblickt hat, das nicht
durch Medikamente oder traumatische Umstände in einer sanften Geburt auf die
Welt kam, hat eine Ahnung von der Präsenz und Intensität dieses ersten
Augenblicks, mit dem ein Neugeborenes in die Welt schaut. Es scheint, als finde
ein Erkennen und Wiedererkennen gleichzeitig statt. Der Blick eines
Neugeborenen kann von einer Offenheit und Präsenz sein, die sprachlos macht. Es
ist der Blick des ungepanzerten Lebens, dem wir hier begegnen. Und der Blick
des ungepanzerten Lebens ist ein Blick, ein Augenblick der reinen Liebe und der
originären Bindung und Verbindung zu(m) anderen Menschen.
Es braucht nicht weiter ausgeführt zu werden, sich
vorzustellen, was dieser erste Augenblick bedeutet, wenn das Neugeborene, noch narkotisiert,
erschöpft von einer traumatischen Geburt oder in eine gestresste oder genervte Umgebung
hineingeboren wird.
Da solche Geburten vor wenigen Jahrzehnten noch den Standard
darstellten, kamen Entwicklungspsychologen wie Magret Mahler zu der Annahme,
dass mit der Geburt eine sog. autistische Phase des Neugeborenen einsetze, die
angeblich gekennzeichnet wäre durch autistische Kontaktlosigkeit zur Umwelt.
Glücklicherweise konnte die moderne Säuglingsforschung der letzten Jahre solche
Mythen ins Reich der Phantasie verweisen und man weiß heute, dass das
Neugeborene von Geburt an ein soziales Wesen ist, das aktiv auf seine Umwelt
Einfluss nimmt und mit ihr interagiert.
Die Augen und der Augenkontakt, also die okulare Phase und
die dergestalt verlängerte Nabelschnur stehen im Mittelpunkt dieser
Bindungsprozesse, des lebendigen Halts, in das ein Mensch hineingeboren wird.
(Fortsetzung folgt)
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