Mit der Achtsamkeit gegenüber den inneren Gedanken- und
Gefühlsmustern in Räumen und Kreuzgängen von Meditation und Kontemplation erwächst
die Möglichkeit einer Desidentifizierung mit der spiegelungsaffinen
Ego-Identität. Diese Desidentifizierung geht einher mit der Erkenntnis, dass nichts
Sicheres, nichts Festes existiert und das, was sicher und fest erscheint, nur
ein Konstrukt des Ego-Verstandes darstellt.
Der stille innere Beobachter wird zur Instanz von Ruhe und
Stille, der inneren Gewissheit, welche sich den Stürmen der Bedeutungsschwere all
jener Gedanken- und Gefühlsströme des Egos nicht nur entgegenstellt, sondern sie,
als Ruhe im Sturm, im Wortsinne erleichtert.
Erkennbar wird, dass ein Großteil dieser Stürme der eigenen
Kindheit und ihren Erfahrungswelten entstammen, dass das, was „persönlich“ und „individuell“
erscheint, in Wahrheit die Prägungen, die Worte, Sätze und vermeintlichen
Wahrheiten darstellen, die wir irgendwann einmal aufgeschnappt haben und zu
unseren gemacht haben. Identifizierungen wurden zur Identitäten. In gewisser
Weise erscheint das Ego als Sammelalbum dieser Identifizierungen, in denen
jedes eingeklebte Bild ein Bild ist, das wir von anderen geschenkt bekamen,
gewollt oder – meist ungewollt.
Aus diesen Vorgang resultiert zu einem bedeutenden Teil das neurotische
Opfer-Schema des homo normalis: Das Individuum spricht das Sammelalbum seiner
Erfahrungen heilig. Dadurch spricht es all die Prägungen und Formungen seiner organismischen
Wahrheit (jenen biologisch-seelischen Anlagen, die jeder neugeborene Mensch auf
die Welt bringt) heilig, und ebenso die die Lebensumwelt, die ihm seine
organismische Wahrheit nahm. Auf dieser Ebene war jeder Mensch tatsächlich
Opfer insofern, dass er in der Kindheit nicht die freie und bewusste Wahl einer
Entscheidung besaß.
Das sich entwickelnde und entwickelte Ego wiederholt gebetsmühlenartig
eine Haltung zum Leben, das ihn selbst als unschuldiges Opfer, den Anderen oder
die Anderen stets als Täter und Übeltäter setzt. Wie ein Ertrinkender klammert
es sich an den Rettungsring der Begründungen aus der Vergangenheit, den Roman
seines Lebens.
In wie vielen Konflikten des Daseins, in kleinen und großen,
findet sich dieses Schema wieder? Welche endlosen Plädoyers kann das Ego
halten, um sich der eigenen Schuld vor sich selbst zu entledigen? Wieviel
Misstrauen und wie viele Ängste verbergen sich eigentlich hinter diesem Muster,
wie viele feste Überzeugungen des Egos aus der Vergangenheit trennen den
Einzelnen vom Leben?
Findet sich hier der mächtige Mechanismus und der
Mechanismus der Macht, der Liebe verhindert, der den Menschen von seiner Liebe
trennt, im Inneren wie im Äußeren?
(Fortsetzung folgt)
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