Es gibt Phänomene, die sind allgegenwärtig, und doch hat es
den Eindruck, als seien sie gar nicht vorhanden. Angst ist ein derartiges
Phänomen. Das Dasein des modernen Menschen wird bestimmt von Angst und von
Ängsten, und genau dies scheint ihm alles andere als bewusst zu sein. Denn: Wer
spricht darüber?
Ich könnte seitenweise Ängste aufzählen, die phänomenologisch im Leben
aufscheinen, einige Beispiele mögen genügen: die Angst vor dem Tod, die Angst
vor Krankheit, die Angst vor dem eigenen Körper, vor dem Unkontrollierten, vor
dem Verrücktwerden, vor dem Unbewussten, vor dem Alleinsein, die Angst, nicht
normal zu sein, die Angst vor Ablehnung, die Angst, nicht willkommen zu sein,
die Angst vor Gefühlen und Emotionalität, die Angst vor Liebe, die Angst vor
Nähe und Intimität oder die Angst vor Distanz, die Verlustangst, die Angst vor
dem einen anderen Menschen oder vor ganzen Menschengruppen, vor Völkern, vor
Armeen, und viele, viele Ängste mehr. So gibt es jede Menge individueller und
kollektiver Ängste.
Betrachten wir jede Angst für sich, dann mag sie plausibel,
begründet und einleuchtend erscheinen. Das Problem ist nur, dass der Verstand
ein Meister darin ist, Erklärungen für das Leben zu liefern, aber ein Stümper,
wenn es darum geht, das Leben zu leben. Es ist der Ego-Verstand, der die Welt konstruiert
aus den Bausteinen seiner Erfahrungen, Analysen, Urteile und Definitionen. Der
Ego-Verstand ist das Skalpell des Chirurgen, das alles fein säuberlich
auftrennt, zerschneidet und seinem theoretischen Modell entsprechend wieder
zusammennäht. So geht der Verstand mit dem Leben um – und auch mit der Angst.
Machen wir zur Erläuterung einen kleinen Exkurs. Aus der
Primatenforschung ist ein Phänomen bekannt, dass der Pionier der
Bindungsforschung, John Bowlby, in einem seiner Bücher einmal so beschrieben
hat: Wenn bei einer Horde Affen ein lautes Flugzeug über den Urwald donnert,
springen die jungen Affen, die durch den Lärm in Angst und Schrecken versetzt
werden, reflexartig auf den Arm des nächsten älteren Affen, klammern sich an
diesen und werden mit großer Selbstverständlichkeit von dem älteren Tier umarmt
und körperlich beschützt. Es müssen dabei nicht die leiblichen Eltern des
kleinen Affen sein, das einzige Kriterium innerhalb der Affenhorde scheint
darin zu bestehen, dass der beschützende Affe älter und lebenserfahrener ist.
Durch den Körperkontakt und Halt entspannt sich das kleine Äffchen und hüpft
kurze Zeit später wieder fröhlich durch die Bäume.
Übertragen wir diese Szene auf uns „zivilisierte“ Menschen.
Stellen Sie sich ein Kleinkind vor, das auf der Straße von einem lauten
tieffliegenden Flugzeug furchtbar erschreckt wird. Was passiert? Das Kleinkind
wird sich hüten, dem nächsten Erwachsenen auf den Arm zu springen, denn es hat
gelernt, dass Körperkontakt nur zu den eigenen Eltern oder Familienmitgliedern
erwünscht ist. In der modernen Gesellschaft wird die körperliche Umarmung eines
Kindes durch einen Erwachsenen als Gefahr gesehen, als gefährlicher Schritt zu
einem potenziellen sexuellen Missbrauch oder Schlimmerem. Die Angst davor
beherrscht das Geschehen.
Die Folge: Das kindliche Bedürfnis nach Körperkontakt (und
der erwachsene Impuls zu beschützen) wird nicht als ein selbstverständlicher
Teil der menschlichen Natur wahrgenommen, sondern als Gefahrenquelle. Angst
definiert das Kind als Eigentum der Eltern bzw. der Familie, als unberührbare
Spezies (wobei übersehen wird, dass bei Missbrauch ein signifikant hoher Anteil
von Tätern aus dem familiären Umfeld stammen).
Für zivilisierte Menschenkinder wird es also kompliziert in
solchen Situationen, und es wird noch komplizierter, wenn wir genau hinschauen,
was weiterhin geschieht. Das ängstliche Kind in unserer Szenerie hat, im
Gegensatz zum Äffchen, nicht nur Schwierigkeiten, was die
Geborgenheitserfahrung durch Körperkontakt betrifft, sondern es wird häufig mit
einer „erwachsenen“ Erklärung beglückt, die etwa lauten dürfte: „Du brauchst
doch keine Angst zu haben, es ist doch nur ein lautes Flugzeug!“
Also im schlimmsten Fall: kein Körperkontakt, dafür eine
kluge Erklärung. Im besseren Fall: kluge Erklärung, aber wenigstens
Körperkontakt. Doch eine Erklärung, warum das Kind eigentlich keine Angst haben
sollte, die wird großzügig in jedem Fall gegeben.
(Fortsetzung folgt)
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